Wedekind, Frank: Die Büchse der Pandora. Berlin, [1903].
Ich kann bei diesem Gymnasiasten wirklich noch Privat- unterricht in der Weltverachtung nehmen. Rodrigo. Sie soll sich das Fell mit Tausend- markscheinen tapezieren lassen! Den Direktoren zapfe ich die Gagen mit der Zentrifugalpumpe ab. Ich kenne die Bande. Brauchen sie Einen nicht, dann darf man ihnen die Stiefel putzen, und wenn sie eine Künstlerin nötig haben, dann schneiden sie sie mit den verbindlichsten Komplimenten vom lichten Galgen herunter. Alwa. In meinen Verhältnissen habe ich außer dem Tod nichts mehr in dieser Welt zu fürchten -- im Reich der Empfindungen bin ich der ärmste Bettler. Aber ich bringe den moralischen Mut nicht mehr auf, meine befestigte Position gegen die Aufregungen des wilden Abenteurerlebens einzutauschen. Rodrigo. Sie hatte Papa Schigolch und mich auf den Strich geschickt, damit wir ihr ein kräftiges Mittel gegen Schlaflosigkeit aufstöbern. Jeder bekam ein Zwanzigmarkstück für Reiseunkosten. Da sehen wir den Jungen im Cafe "Nachtlicht" sitzen. Er saß wie ein Verbrecher auf der Anklagebank. Schigolch beroch ihn von allen Seiten und sagte: "Der ist noch Jungfrau." (Oben auf der Galerie werden schleppende Schritte hörbar.) Rodrigo. Da ist sie! -- Die zukünftige, pompöseste Luftgymnastikerin der Jetztzeit! (Ueber der Treppe teilt sich der Vorhang und Lulu im schwarzen Kleid, auf Schigolchs Arm gestützt, schleppt sich langsam die Treppe herunter.) Schigolch. Hü, alter Schimmel! Wir müssen heute noch nach Paris. Rodrigo (Lulu mit blöden Augen anglotzend). Himmel, Tod und Wolkenbruch! Lulu. Langsam! Du klemmst mir den Arm ein. Rodrigo. Woher nimmst Du die Schamlosig-
Ich kann bei dieſem Gymnaſiaſten wirklich noch Privat- unterricht in der Weltverachtung nehmen. Rodrigo. Sie ſoll ſich das Fell mit Tauſend- markſcheinen tapezieren laſſen! Den Direktoren zapfe ich die Gagen mit der Zentrifugalpumpe ab. Ich kenne die Bande. Brauchen ſie Einen nicht, dann darf man ihnen die Stiefel putzen, und wenn ſie eine Künſtlerin nötig haben, dann ſchneiden ſie ſie mit den verbindlichſten Komplimenten vom lichten Galgen herunter. Alwa. In meinen Verhältniſſen habe ich außer dem Tod nichts mehr in dieſer Welt zu fürchten — im Reich der Empfindungen bin ich der ärmſte Bettler. Aber ich bringe den moraliſchen Mut nicht mehr auf, meine befeſtigte Poſition gegen die Aufregungen des wilden Abenteurerlebens einzutauſchen. Rodrigo. Sie hatte Papa Schigolch und mich auf den Strich geſchickt, damit wir ihr ein kräftiges Mittel gegen Schlafloſigkeit aufſtöbern. Jeder bekam ein Zwanzigmarkſtück für Reiſeunkoſten. Da ſehen wir den Jungen im Café „Nachtlicht“ ſitzen. Er ſaß wie ein Verbrecher auf der Anklagebank. Schigolch beroch ihn von allen Seiten und ſagte: „Der iſt noch Jungfrau.“ (Oben auf der Galerie werden ſchleppende Schritte hörbar.) Rodrigo. Da iſt ſie! — Die zukünftige, pompöſeſte Luftgymnaſtikerin der Jetztzeit! (Ueber der Treppe teilt ſich der Vorhang und Lulu im ſchwarzen Kleid, auf Schigolchs Arm geſtützt, ſchleppt ſich langſam die Treppe herunter.) Schigolch. Hü, alter Schimmel! Wir müſſen heute noch nach Paris. Rodrigo (Lulu mit blöden Augen anglotzend). Himmel, Tod und Wolkenbruch! Lulu. Langſam! Du klemmſt mir den Arm ein. Rodrigo. Woher nimmſt Du die Schamloſig- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <sp who="#ALW"> <p><pb facs="#f0030" n="22"/> Ich kann bei dieſem Gymnaſiaſten wirklich noch Privat-<lb/> unterricht in der Weltverachtung nehmen.</p> </sp><lb/> <sp who="#ROD"> <speaker><hi rendition="#g">Rodrigo</hi>.</speaker> <p>Sie ſoll ſich das Fell mit Tauſend-<lb/> markſcheinen tapezieren laſſen! Den Direktoren zapfe<lb/> ich die Gagen mit der Zentrifugalpumpe ab. Ich kenne<lb/> die Bande. Brauchen ſie Einen nicht, dann darf man<lb/> ihnen die Stiefel putzen, und wenn ſie eine Künſtlerin<lb/> nötig haben, dann ſchneiden ſie ſie mit den verbindlichſten<lb/> Komplimenten vom lichten Galgen herunter.</p> </sp><lb/> <sp who="#ALW"> <speaker><hi rendition="#g">Alwa</hi>.</speaker> <p>In meinen Verhältniſſen habe ich außer<lb/> dem Tod nichts mehr in dieſer Welt zu fürchten — im<lb/> Reich der Empfindungen bin ich der ärmſte Bettler.<lb/> Aber ich bringe den moraliſchen Mut nicht mehr auf,<lb/> meine befeſtigte Poſition gegen die Aufregungen des<lb/> wilden Abenteurerlebens einzutauſchen.</p> </sp><lb/> <sp who="#ROD"> <speaker><hi rendition="#g">Rodrigo</hi>.</speaker> <p>Sie hatte Papa Schigolch und mich<lb/> auf den Strich geſchickt, damit wir ihr ein kräftiges<lb/> Mittel gegen Schlafloſigkeit aufſtöbern. Jeder bekam<lb/> ein Zwanzigmarkſtück für Reiſeunkoſten. Da ſehen wir<lb/> den Jungen im Caf<hi rendition="#aq">é</hi> „Nachtlicht“ ſitzen. Er ſaß wie ein<lb/> Verbrecher auf der Anklagebank. Schigolch beroch ihn<lb/> von allen Seiten und ſagte: „Der iſt noch Jungfrau.“</p><lb/> <stage>(Oben auf der Galerie werden ſchleppende Schritte hörbar.)</stage> </sp><lb/> <sp who="#ROD"> <speaker><hi rendition="#g">Rodrigo</hi>.</speaker> <p>Da iſt ſie! — Die zukünftige, pompöſeſte<lb/> Luftgymnaſtikerin der Jetztzeit!</p><lb/> <stage>(Ueber der Treppe teilt ſich der Vorhang und Lulu im ſchwarzen Kleid,<lb/> auf Schigolchs Arm geſtützt, ſchleppt ſich langſam die Treppe herunter.)</stage> </sp><lb/> <sp who="#SCH"> <speaker><hi rendition="#g">Schigolch</hi>.</speaker> <p>Hü, alter Schimmel! Wir müſſen<lb/> heute noch nach Paris.</p> </sp><lb/> <sp who="#ROD"> <speaker> <hi rendition="#g">Rodrigo</hi> </speaker> <stage>(Lulu mit blöden Augen anglotzend).</stage> <p>Himmel,<lb/> Tod und Wolkenbruch!</p> </sp><lb/> <sp who="#LUL"> <speaker><hi rendition="#g">Lulu</hi>.</speaker> <p>Langſam! Du klemmſt mir den Arm ein.</p> </sp><lb/> <sp who="#ROD"> <speaker><hi rendition="#g">Rodrigo</hi>.</speaker> <p>Woher nimmſt Du die Schamloſig-<lb/></p> </sp> </div> </body> </text> </TEI> [22/0030]
Ich kann bei dieſem Gymnaſiaſten wirklich noch Privat-
unterricht in der Weltverachtung nehmen.
Rodrigo. Sie ſoll ſich das Fell mit Tauſend-
markſcheinen tapezieren laſſen! Den Direktoren zapfe
ich die Gagen mit der Zentrifugalpumpe ab. Ich kenne
die Bande. Brauchen ſie Einen nicht, dann darf man
ihnen die Stiefel putzen, und wenn ſie eine Künſtlerin
nötig haben, dann ſchneiden ſie ſie mit den verbindlichſten
Komplimenten vom lichten Galgen herunter.
Alwa. In meinen Verhältniſſen habe ich außer
dem Tod nichts mehr in dieſer Welt zu fürchten — im
Reich der Empfindungen bin ich der ärmſte Bettler.
Aber ich bringe den moraliſchen Mut nicht mehr auf,
meine befeſtigte Poſition gegen die Aufregungen des
wilden Abenteurerlebens einzutauſchen.
Rodrigo. Sie hatte Papa Schigolch und mich
auf den Strich geſchickt, damit wir ihr ein kräftiges
Mittel gegen Schlafloſigkeit aufſtöbern. Jeder bekam
ein Zwanzigmarkſtück für Reiſeunkoſten. Da ſehen wir
den Jungen im Café „Nachtlicht“ ſitzen. Er ſaß wie ein
Verbrecher auf der Anklagebank. Schigolch beroch ihn
von allen Seiten und ſagte: „Der iſt noch Jungfrau.“
(Oben auf der Galerie werden ſchleppende Schritte hörbar.)
Rodrigo. Da iſt ſie! — Die zukünftige, pompöſeſte
Luftgymnaſtikerin der Jetztzeit!
(Ueber der Treppe teilt ſich der Vorhang und Lulu im ſchwarzen Kleid,
auf Schigolchs Arm geſtützt, ſchleppt ſich langſam die Treppe herunter.)
Schigolch. Hü, alter Schimmel! Wir müſſen
heute noch nach Paris.
Rodrigo (Lulu mit blöden Augen anglotzend). Himmel,
Tod und Wolkenbruch!
Lulu. Langſam! Du klemmſt mir den Arm ein.
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