Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wedekind, Frank: Frühlings Erwachen. Zürich, 1891.

Bild:
<< vorherige Seite
Moritz. Was gäbe ich darum, wenn er es hätte bleiben
lassen.
Der vermummte Herr. Sie würden sich eben erhängt
haben!
Melchior. Wie denken Sie über Moral?
Der vermummte Herr. Kerl -- bin ich dein Schul-
knabe?!
Melchior. Weiß ich, was Sie sind!!
Moritz. Streitet nicht! -- Bitte, streitet nicht. Was
kommt dabei heraus! -- Wozu sitzen wir, zwei Lebendige und
ein Todter, Nachts um zwei Uhr hier auf dem Kirchhof beisammen,
wenn wir streiten wollen wie Saufbrüder! -- Es soll mir ein
Vergnügen sein, der Verhandlung mitbeiwohnen zu dürfen --
Wenn ihr streiten wollt, nehme ich meinen Kopf unter den Arm
und gehe.
Melchior. Du bist immer noch derselbe Angstmeier!
Der vermummte Herr. Das Gespenst hat nicht Un-
recht. Man soll seine Würde nicht außer Acht lassen. -- Unter
Moral verstehe ich das reelle Produkt zweier imaginärer Größen.
Die imaginären Größen sind Sollen und Wollen. Das Pro-
duct heißt Moral und läßt sich in seiner Realität nicht leugnen.
Moritz. Hätten Sie mir das vorher gesagt! -- Meine
Moral hat mich in den Tod gejagt. Um meiner lieben Eltern
willen griff ich zum Mordgewehr. "Ehre Vater und Mutter, auf
daß du lange lebest." An mir hat sich die Schrift phänomenal
blamirt.
Der vermummte Herr. Geben Sie sich keinen Illusionen
hin, lieber Freund! Ihre lieben Eltern wären so wenig daran
gestorben wie Sie. Rigoros beurtheilt, würden sie ja lediglich
aus gesundheitlichem Bedürfniß getobt und gewettert haben.
Moritz. Was gäbe ich darum, wenn er es hätte bleiben
laſſen.
Der vermummte Herr. Sie würden ſich eben erhängt
haben!
Melchior. Wie denken Sie über Moral?
Der vermummte Herr. Kerl — bin ich dein Schul-
knabe?!
Melchior. Weiß ich, was Sie ſind!!
Moritz. Streitet nicht! — Bitte, ſtreitet nicht. Was
kommt dabei heraus! — Wozu ſitzen wir, zwei Lebendige und
ein Todter, Nachts um zwei Uhr hier auf dem Kirchhof beiſammen,
wenn wir ſtreiten wollen wie Saufbrüder! — Es ſoll mir ein
Vergnügen ſein, der Verhandlung mitbeiwohnen zu dürfen —
Wenn ihr ſtreiten wollt, nehme ich meinen Kopf unter den Arm
und gehe.
Melchior. Du biſt immer noch derſelbe Angſtmeier!
Der vermummte Herr. Das Geſpenſt hat nicht Un-
recht. Man ſoll ſeine Würde nicht außer Acht laſſen. — Unter
Moral verſtehe ich das reelle Produkt zweier imaginärer Größen.
Die imaginären Größen ſind Sollen und Wollen. Das Pro-
duct heißt Moral und läßt ſich in ſeiner Realität nicht leugnen.
Moritz. Hätten Sie mir das vorher geſagt! — Meine
Moral hat mich in den Tod gejagt. Um meiner lieben Eltern
willen griff ich zum Mordgewehr. „Ehre Vater und Mutter, auf
daß du lange lebeſt.“ An mir hat ſich die Schrift phänomenal
blamirt.
Der vermummte Herr. Geben Sie ſich keinen Illuſionen
hin, lieber Freund! Ihre lieben Eltern wären ſo wenig daran
geſtorben wie Sie. Rigoros beurtheilt, würden ſie ja lediglich
aus geſundheitlichem Bedürfniß getobt und gewettert haben.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0099" n="83"/>
          <sp who="#MOR">
            <speaker><hi rendition="#g">Moritz</hi>.</speaker>
            <p>Was gäbe ich darum, wenn er es hätte bleiben<lb/>
la&#x017F;&#x017F;en.</p>
          </sp><lb/>
          <sp who="#HER">
            <speaker><hi rendition="#g">Der vermummte Herr</hi>.</speaker>
            <p>Sie würden &#x017F;ich eben erhängt<lb/>
haben!</p>
          </sp><lb/>
          <sp who="#MEL">
            <speaker><hi rendition="#g">Melchior</hi>.</speaker>
            <p>Wie denken Sie über Moral?</p>
          </sp><lb/>
          <sp who="#HER">
            <speaker><hi rendition="#g">Der vermummte Herr</hi>.</speaker>
            <p>Kerl &#x2014; bin ich dein Schul-<lb/>
knabe?!</p>
          </sp><lb/>
          <sp who="#MEL">
            <speaker><hi rendition="#g">Melchior</hi>.</speaker>
            <p>Weiß ich, was Sie &#x017F;ind!!</p>
          </sp><lb/>
          <sp who="#MOR">
            <speaker><hi rendition="#g">Moritz</hi>.</speaker>
            <p>Streitet nicht! &#x2014; Bitte, &#x017F;treitet nicht. Was<lb/>
kommt dabei heraus! &#x2014; Wozu &#x017F;itzen wir, zwei Lebendige und<lb/>
ein Todter, Nachts um zwei Uhr hier auf dem Kirchhof bei&#x017F;ammen,<lb/>
wenn wir &#x017F;treiten wollen wie Saufbrüder! &#x2014; Es &#x017F;oll mir ein<lb/>
Vergnügen &#x017F;ein, der Verhandlung mitbeiwohnen zu dürfen &#x2014;<lb/>
Wenn ihr &#x017F;treiten wollt, nehme ich meinen Kopf unter den Arm<lb/>
und gehe.</p>
          </sp><lb/>
          <sp who="#MEL">
            <speaker><hi rendition="#g">Melchior</hi>.</speaker>
            <p>Du bi&#x017F;t immer noch der&#x017F;elbe Ang&#x017F;tmeier!</p>
          </sp><lb/>
          <sp who="#HER">
            <speaker><hi rendition="#g">Der vermummte Herr</hi>.</speaker>
            <p>Das Ge&#x017F;pen&#x017F;t hat nicht Un-<lb/>
recht. Man &#x017F;oll &#x017F;eine Würde nicht außer Acht la&#x017F;&#x017F;en. &#x2014; Unter<lb/>
Moral ver&#x017F;tehe ich das reelle Produkt zweier imaginärer Größen.<lb/>
Die imaginären Größen &#x017F;ind <hi rendition="#g">Sollen</hi> und <hi rendition="#g">Wollen</hi>. Das Pro-<lb/>
duct heißt Moral und läßt &#x017F;ich in &#x017F;einer Realität nicht leugnen.</p>
          </sp><lb/>
          <sp who="#MOR">
            <speaker><hi rendition="#g">Moritz</hi>.</speaker>
            <p>Hätten Sie mir das vorher ge&#x017F;agt! &#x2014; Meine<lb/>
Moral hat mich in den Tod gejagt. Um meiner lieben Eltern<lb/>
willen griff ich zum Mordgewehr. &#x201E;Ehre Vater und Mutter, auf<lb/>
daß du lange lebe&#x017F;t.&#x201C; An mir hat &#x017F;ich die Schrift phänomenal<lb/>
blamirt.</p>
          </sp><lb/>
          <sp who="#HER">
            <speaker><hi rendition="#g">Der vermummte Herr</hi>.</speaker>
            <p>Geben Sie &#x017F;ich keinen Illu&#x017F;ionen<lb/>
hin, lieber Freund! Ihre lieben Eltern wären &#x017F;o wenig daran<lb/>
ge&#x017F;torben wie Sie. Rigoros beurtheilt, würden &#x017F;ie ja lediglich<lb/>
aus ge&#x017F;undheitlichem Bedürfniß getobt und gewettert haben.</p>
          </sp><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[83/0099] Moritz. Was gäbe ich darum, wenn er es hätte bleiben laſſen. Der vermummte Herr. Sie würden ſich eben erhängt haben! Melchior. Wie denken Sie über Moral? Der vermummte Herr. Kerl — bin ich dein Schul- knabe?! Melchior. Weiß ich, was Sie ſind!! Moritz. Streitet nicht! — Bitte, ſtreitet nicht. Was kommt dabei heraus! — Wozu ſitzen wir, zwei Lebendige und ein Todter, Nachts um zwei Uhr hier auf dem Kirchhof beiſammen, wenn wir ſtreiten wollen wie Saufbrüder! — Es ſoll mir ein Vergnügen ſein, der Verhandlung mitbeiwohnen zu dürfen — Wenn ihr ſtreiten wollt, nehme ich meinen Kopf unter den Arm und gehe. Melchior. Du biſt immer noch derſelbe Angſtmeier! Der vermummte Herr. Das Geſpenſt hat nicht Un- recht. Man ſoll ſeine Würde nicht außer Acht laſſen. — Unter Moral verſtehe ich das reelle Produkt zweier imaginärer Größen. Die imaginären Größen ſind Sollen und Wollen. Das Pro- duct heißt Moral und läßt ſich in ſeiner Realität nicht leugnen. Moritz. Hätten Sie mir das vorher geſagt! — Meine Moral hat mich in den Tod gejagt. Um meiner lieben Eltern willen griff ich zum Mordgewehr. „Ehre Vater und Mutter, auf daß du lange lebeſt.“ An mir hat ſich die Schrift phänomenal blamirt. Der vermummte Herr. Geben Sie ſich keinen Illuſionen hin, lieber Freund! Ihre lieben Eltern wären ſo wenig daran geſtorben wie Sie. Rigoros beurtheilt, würden ſie ja lediglich aus geſundheitlichem Bedürfniß getobt und gewettert haben.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wedekind_erwachen_1891
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wedekind_erwachen_1891/99
Zitationshilfe: Wedekind, Frank: Frühlings Erwachen. Zürich, 1891, S. 83. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wedekind_erwachen_1891/99>, abgerufen am 24.11.2024.