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Wedekind, Frank: Frühlings Erwachen. Zürich, 1891.

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Zeit! -- Morgens mußte ich seinen persischen Schlafrock über-
werfen und Abends in schwarzem Pagenkostüm durch's Zimmer
geh'n; an Hals, an Knien und Aermeln weiße Spitzenaufschläge.
Täglich photographirte er mich in anderem Arrangement --
einmal auf der Sophalehne als Ariadne, einmal als Leda, einmal
als Ganymed, einmal auf allen Vieren als weiblicher Nebuchod-
Nosor. Dabei schwärmte er von Umbringen, von Erschießen,
Selbstmord und Kohlendampf. Frühmorgens nahm er eine Pistole
in's Bett, lud sie voll Spitzkugeln und setzte sie mir auf die
Brust: Ein Zwinkern, so drück' ich! -- O er hätte gedrückt,
Moritz; er hätte gedrückt! -- Dann nahm er das Dings in den
Mund wie ein Pusterohr. Das wecke den Selbsterhaltungstrieb.
Er tändelte damit wie Lena mit ihrem Ridicül. Brrrr -- die
Kugel wäre mir durch's Rückgrat gegangen.
Moritz. Lebt Heinrich noch?
Ilse. Was weiß ich! -- Ueber dem Bett war ein Decken-
spiegel im Plafond eingelassen. Das Cabinet schien thurmhoch
und hell wie ein Opernhaus. Man sah sich leibhaftig vom Himmel
herunterhängen. Grauenvoll habe ich die Nächte geträumt. --
Gott, o Gott, wenn es erst wieder Tag würde! -- Gute Nacht,
Ilse. Wenn du schläfst, bist du zum Morden schön!
Moritz. Lebt dieser Heinrich noch?
Ilse. So Gott will nicht! -- Wie er eines Tages Absynth
holt, werfe ich den Mantel um und schleiche mich auf die Straße.
Der Fasching war aus; die Polizei fängt mich ab; was ich in
Mannskleidern wolle? -- Sie brachten mich zur Hauptwache.
Da kommen Nohl, Fehrendorf, Padinsky, Spühler,
Oikonomopulos
, die ganze Priapia, und bürgen für mich.
Im Fiaker transportirten sie mich auf Adolar's Atelier. Seither
bin ich der Horde treu. Fehrendorf ist ein Affe, Nohl ist
ein Schwein, Bojokewitsch ein Uhu, Loison eine Hyäne,
Oikonomopulos ein Kameel -- darum lieb' ich sie doch
Zeit! — Morgens mußte ich ſeinen perſiſchen Schlafrock über-
werfen und Abends in ſchwarzem Pagenkoſtüm durch's Zimmer
geh'n; an Hals, an Knien und Aermeln weiße Spitzenaufſchläge.
Täglich photographirte er mich in anderem Arrangement —
einmal auf der Sophalehne als Ariadne, einmal als Leda, einmal
als Ganymed, einmal auf allen Vieren als weiblicher Nebuchod-
Noſor. Dabei ſchwärmte er von Umbringen, von Erſchießen,
Selbſtmord und Kohlendampf. Frühmorgens nahm er eine Piſtole
in's Bett, lud ſie voll Spitzkugeln und ſetzte ſie mir auf die
Bruſt: Ein Zwinkern, ſo drück' ich! — O er hätte gedrückt,
Moritz; er hätte gedrückt! — Dann nahm er das Dings in den
Mund wie ein Puſterohr. Das wecke den Selbſterhaltungstrieb.
Er tändelte damit wie Lena mit ihrem Ridicül. Brrrr — die
Kugel wäre mir durch's Rückgrat gegangen.
Moritz. Lebt Heinrich noch?
Ilſe. Was weiß ich! — Ueber dem Bett war ein Decken-
ſpiegel im Plafond eingelaſſen. Das Cabinet ſchien thurmhoch
und hell wie ein Opernhaus. Man ſah ſich leibhaftig vom Himmel
herunterhängen. Grauenvoll habe ich die Nächte geträumt. —
Gott, o Gott, wenn es erſt wieder Tag würde! — Gute Nacht,
Ilſe. Wenn du ſchläfſt, biſt du zum Morden ſchön!
Moritz. Lebt dieſer Heinrich noch?
Ilſe. So Gott will nicht! — Wie er eines Tages Abſynth
holt, werfe ich den Mantel um und ſchleiche mich auf die Straße.
Der Faſching war aus; die Polizei fängt mich ab; was ich in
Mannskleidern wolle? — Sie brachten mich zur Hauptwache.
Da kommen Nohl, Fehrendorf, Padinsky, Spühler,
Oikonomopulos
, die ganze Priapia, und bürgen für mich.
Im Fiaker transportirten ſie mich auf Adolar's Atelier. Seither
bin ich der Horde treu. Fehrendorf iſt ein Affe, Nohl iſt
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[47/0063] Zeit! — Morgens mußte ich ſeinen perſiſchen Schlafrock über- werfen und Abends in ſchwarzem Pagenkoſtüm durch's Zimmer geh'n; an Hals, an Knien und Aermeln weiße Spitzenaufſchläge. Täglich photographirte er mich in anderem Arrangement — einmal auf der Sophalehne als Ariadne, einmal als Leda, einmal als Ganymed, einmal auf allen Vieren als weiblicher Nebuchod- Noſor. Dabei ſchwärmte er von Umbringen, von Erſchießen, Selbſtmord und Kohlendampf. Frühmorgens nahm er eine Piſtole in's Bett, lud ſie voll Spitzkugeln und ſetzte ſie mir auf die Bruſt: Ein Zwinkern, ſo drück' ich! — O er hätte gedrückt, Moritz; er hätte gedrückt! — Dann nahm er das Dings in den Mund wie ein Puſterohr. Das wecke den Selbſterhaltungstrieb. Er tändelte damit wie Lena mit ihrem Ridicül. Brrrr — die Kugel wäre mir durch's Rückgrat gegangen. Moritz. Lebt Heinrich noch? Ilſe. Was weiß ich! — Ueber dem Bett war ein Decken- ſpiegel im Plafond eingelaſſen. Das Cabinet ſchien thurmhoch und hell wie ein Opernhaus. Man ſah ſich leibhaftig vom Himmel herunterhängen. Grauenvoll habe ich die Nächte geträumt. — Gott, o Gott, wenn es erſt wieder Tag würde! — Gute Nacht, Ilſe. Wenn du ſchläfſt, biſt du zum Morden ſchön! Moritz. Lebt dieſer Heinrich noch? Ilſe. So Gott will nicht! — Wie er eines Tages Abſynth holt, werfe ich den Mantel um und ſchleiche mich auf die Straße. Der Faſching war aus; die Polizei fängt mich ab; was ich in Mannskleidern wolle? — Sie brachten mich zur Hauptwache. Da kommen Nohl, Fehrendorf, Padinsky, Spühler, Oikonomopulos, die ganze Priapia, und bürgen für mich. Im Fiaker transportirten ſie mich auf Adolar's Atelier. Seither bin ich der Horde treu. Fehrendorf iſt ein Affe, Nohl iſt ein Schwein, Bojokewitſch ein Uhu, Loiſon eine Hyäne, Oikonomopulos ein Kameel — darum lieb' ich ſie doch

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Wedekind, Frank: Frühlings Erwachen. Zürich, 1891, S. 47. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wedekind_erwachen_1891/63>, abgerufen am 24.11.2024.