Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wedekind, Frank: Frühlings Erwachen. Zürich, 1891.

Bild:
<< vorherige Seite
ausgezeichnete Schüler sich im Leben nicht sonderlich bewährt
haben. Auf jeden Fall gebe ich Ihnen die Versicherung, daß
Ihr Mißgeschick, soweit das von mir abhängt, in Ihrem Verkehr
mit Melchior nichts ändern soll. Es wird mir stets zur Freude
gereichen, meinen Sohn mit einem jungen Manne umgeh'n zu
sehen, der sich, mag ihn nun die Welt beurtheilen, wie sie will,
auch meine vollste Sympathie zu gewinnen vermochte.

Und somit Kopf hoch, Herr Stiefel! -- Solche Krisen
dieser oder jener Art treten an jeden von uns heran und wollen
eben überstanden sein. Wollte da ein Jeder gleich zu Dolch und
Gift greifen, es möchte recht bald keine Menschen mehr auf der
Welt geben. Lassen Sie bald wieder etwas von sich hören und
seien Sie herzlich gegrüßt von Ihrer Ihnen unverändert zugethanen
mütterlichen Freundin
Fanny G.

Sechste Scene.
Bergmanns Garten im Morgensonnenglanz.
Wendla. Warum hast du dich aus der Stube geschlichen?
-- Veilchen suchen! -- Weil mich Mutter lächeln sieht. -- Warum
bringst du auch die Lippen nicht mehr zusammen? -- Ich weiß
nicht. -- Ich weiß es ja nicht, ich finde nicht Worte. ...

Der Weg ist wie ein Pelücheteppich -- kein Steinchen, kein
Dorn. -- Meine Füße berühren den Boden nicht ... O, wie
ich die Nacht geschlummert habe!

Hier standen sie. -- Mir wird ernsthaft wie einer Nonne
beim Abendmahl. -- Süße Veilchen! -- Ruhig, Mütterchen. Ich
will mein Bußgewand anzieh'n. -- Ach Gott, wenn jemand käme,
dem ich um den Hals fallen und erzählen könnte!

ausgezeichnete Schüler ſich im Leben nicht ſonderlich bewährt
haben. Auf jeden Fall gebe ich Ihnen die Verſicherung, daß
Ihr Mißgeſchick, ſoweit das von mir abhängt, in Ihrem Verkehr
mit Melchior nichts ändern ſoll. Es wird mir ſtets zur Freude
gereichen, meinen Sohn mit einem jungen Manne umgeh'n zu
ſehen, der ſich, mag ihn nun die Welt beurtheilen, wie ſie will,
auch meine vollſte Sympathie zu gewinnen vermochte.

Und ſomit Kopf hoch, Herr Stiefel! — Solche Kriſen
dieſer oder jener Art treten an jeden von uns heran und wollen
eben überſtanden ſein. Wollte da ein Jeder gleich zu Dolch und
Gift greifen, es möchte recht bald keine Menſchen mehr auf der
Welt geben. Laſſen Sie bald wieder etwas von ſich hören und
ſeien Sie herzlich gegrüßt von Ihrer Ihnen unverändert zugethanen
mütterlichen Freundin
Fanny G.

Sechſte Scene.
Bergmanns Garten im Morgenſonnenglanz.
Wendla. Warum haſt du dich aus der Stube geſchlichen?
— Veilchen ſuchen! — Weil mich Mutter lächeln ſieht. — Warum
bringſt du auch die Lippen nicht mehr zuſammen? — Ich weiß
nicht. — Ich weiß es ja nicht, ich finde nicht Worte. ...

Der Weg iſt wie ein Pelücheteppich — kein Steinchen, kein
Dorn. — Meine Füße berühren den Boden nicht … O, wie
ich die Nacht geſchlummert habe!

Hier ſtanden ſie. — Mir wird ernſthaft wie einer Nonne
beim Abendmahl. — Süße Veilchen! — Ruhig, Mütterchen. Ich
will mein Bußgewand anzieh'n. — Ach Gott, wenn jemand käme,
dem ich um den Hals fallen und erzählen könnte!

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <sp who="#FRG">
            <p><pb facs="#f0057" n="41"/>
ausgezeichnete Schüler &#x017F;ich im Leben nicht &#x017F;onderlich bewährt<lb/>
haben. Auf jeden Fall gebe ich Ihnen die Ver&#x017F;icherung, daß<lb/>
Ihr Mißge&#x017F;chick, &#x017F;oweit das von mir abhängt, in Ihrem Verkehr<lb/>
mit <hi rendition="#g">Melchior</hi> nichts ändern &#x017F;oll. Es wird mir &#x017F;tets zur Freude<lb/>
gereichen, meinen Sohn mit einem jungen Manne umgeh'n zu<lb/>
&#x017F;ehen, der &#x017F;ich, mag ihn nun die Welt beurtheilen, wie &#x017F;ie will,<lb/>
auch meine voll&#x017F;te Sympathie zu gewinnen vermochte.</p><lb/>
            <p>Und &#x017F;omit Kopf hoch, Herr Stiefel! &#x2014; Solche Kri&#x017F;en<lb/>
die&#x017F;er oder jener Art treten an jeden von uns heran und wollen<lb/>
eben über&#x017F;tanden &#x017F;ein. Wollte da ein Jeder gleich zu Dolch und<lb/>
Gift greifen, es möchte recht bald keine Men&#x017F;chen mehr auf der<lb/>
Welt geben. La&#x017F;&#x017F;en Sie bald wieder etwas von &#x017F;ich hören und<lb/>
&#x017F;eien Sie herzlich gegrüßt von Ihrer Ihnen unverändert zugethanen<lb/><hi rendition="#c">mütterlichen Freundin</hi><lb/><hi rendition="#et">Fanny G.</hi></p>
          </sp>
        </div><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        <div n="2">
          <head> <hi rendition="#b">Sech&#x017F;te Scene.</hi> </head><lb/>
          <stage><hi rendition="#g">Bergmanns Garten im Morgen&#x017F;onnenglanz</hi>.</stage><lb/>
          <sp who="#WEN">
            <speaker><hi rendition="#g">Wendla</hi>.</speaker>
            <p>Warum ha&#x017F;t du dich aus der Stube ge&#x017F;chlichen?<lb/>
&#x2014; Veilchen &#x017F;uchen! &#x2014; Weil mich Mutter lächeln &#x017F;ieht. &#x2014; Warum<lb/>
bring&#x017F;t du auch die Lippen nicht mehr zu&#x017F;ammen? &#x2014; Ich weiß<lb/>
nicht. &#x2014; Ich weiß es ja nicht, ich finde nicht Worte. ...</p><lb/>
            <p>Der Weg i&#x017F;t wie ein Pelücheteppich &#x2014; kein Steinchen, kein<lb/>
Dorn. &#x2014; Meine Füße berühren den Boden nicht &#x2026; O, wie<lb/>
ich die Nacht ge&#x017F;chlummert habe!</p><lb/>
            <p>Hier &#x017F;tanden &#x017F;ie. &#x2014; Mir wird ern&#x017F;thaft wie einer Nonne<lb/>
beim Abendmahl. &#x2014; Süße Veilchen! &#x2014; Ruhig, Mütterchen. Ich<lb/>
will mein Bußgewand anzieh'n. &#x2014; Ach Gott, wenn jemand käme,<lb/>
dem ich um den Hals fallen und erzählen könnte!</p>
          </sp>
        </div><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[41/0057] ausgezeichnete Schüler ſich im Leben nicht ſonderlich bewährt haben. Auf jeden Fall gebe ich Ihnen die Verſicherung, daß Ihr Mißgeſchick, ſoweit das von mir abhängt, in Ihrem Verkehr mit Melchior nichts ändern ſoll. Es wird mir ſtets zur Freude gereichen, meinen Sohn mit einem jungen Manne umgeh'n zu ſehen, der ſich, mag ihn nun die Welt beurtheilen, wie ſie will, auch meine vollſte Sympathie zu gewinnen vermochte. Und ſomit Kopf hoch, Herr Stiefel! — Solche Kriſen dieſer oder jener Art treten an jeden von uns heran und wollen eben überſtanden ſein. Wollte da ein Jeder gleich zu Dolch und Gift greifen, es möchte recht bald keine Menſchen mehr auf der Welt geben. Laſſen Sie bald wieder etwas von ſich hören und ſeien Sie herzlich gegrüßt von Ihrer Ihnen unverändert zugethanen mütterlichen Freundin Fanny G. Sechſte Scene. Bergmanns Garten im Morgenſonnenglanz. Wendla. Warum haſt du dich aus der Stube geſchlichen? — Veilchen ſuchen! — Weil mich Mutter lächeln ſieht. — Warum bringſt du auch die Lippen nicht mehr zuſammen? — Ich weiß nicht. — Ich weiß es ja nicht, ich finde nicht Worte. ... Der Weg iſt wie ein Pelücheteppich — kein Steinchen, kein Dorn. — Meine Füße berühren den Boden nicht … O, wie ich die Nacht geſchlummert habe! Hier ſtanden ſie. — Mir wird ernſthaft wie einer Nonne beim Abendmahl. — Süße Veilchen! — Ruhig, Mütterchen. Ich will mein Bußgewand anzieh'n. — Ach Gott, wenn jemand käme, dem ich um den Hals fallen und erzählen könnte!

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wedekind_erwachen_1891
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wedekind_erwachen_1891/57
Zitationshilfe: Wedekind, Frank: Frühlings Erwachen. Zürich, 1891, S. 41. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wedekind_erwachen_1891/57>, abgerufen am 21.11.2024.