Sobald meine Großmutter ihre Tochter Sus- chen erkannte, lief sie auf dieselbe zu, fiel ihr, sich zwischen sie und den Nachbar eindrängend, mit den Worten: ach meine Herzenstochter! um den Hals. Madam Schnitzer konnte keinen Augenblick in dem Wahn bleiben, daß sie von einer Rasenden über- fallen würde, denn die bekannte Stimme sagte ihr, daß ihre leibhaftige Mutter sie umklammert hätte; allein weit weniger würde sie erschrocken sein, wenn dieser Ueberfall würklich von einer tollen Per- son geschehen wäre.
Sie besann sich indessen schnell, daß sie die Anwesenden mit einem solchen Vorgeben täuschen könnte, riß sich also mit Ungestüm los, und schrie, was will mir dies Weib? sie ist vermuthlich nicht bei Verstande. Die arme Alte war von ihrer Höhe herabgestürzt, sie faltete die Hände, konnte vor Bestürzung nicht sprechen, erblaßte und sank um. Madam Schnitzer that, als erbarmte sie der Zu- stand dieser Frau; ach! sagte sie, jetzt fällt mirs ein, es ist eine Unglückliche! (sie wies auf die Stirn, um Verrücktheit des armen Weibes anzu- zeigen,) ich gebe ihr zuweilen etwas, nun findet sie mich hier, und geräth so außer sich. Die Alte erholte sich, und meine Mutter ließ ihr durch den
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Sobald meine Großmutter ihre Tochter Sus- chen erkannte, lief ſie auf dieſelbe zu, fiel ihr, ſich zwiſchen ſie und den Nachbar eindraͤngend, mit den Worten: ach meine Herzenstochter! um den Hals. Madam Schnitzer konnte keinen Augenblick in dem Wahn bleiben, daß ſie von einer Raſenden uͤber- fallen wuͤrde, denn die bekannte Stimme ſagte ihr, daß ihre leibhaftige Mutter ſie umklammert haͤtte; allein weit weniger wuͤrde ſie erſchrocken ſein, wenn dieſer Ueberfall wuͤrklich von einer tollen Per- ſon geſchehen waͤre.
Sie beſann ſich indeſſen ſchnell, daß ſie die Anweſenden mit einem ſolchen Vorgeben taͤuſchen koͤnnte, riß ſich alſo mit Ungeſtuͤm los, und ſchrie, was will mir dies Weib? ſie iſt vermuthlich nicht bei Verſtande. Die arme Alte war von ihrer Hoͤhe herabgeſtuͤrzt, ſie faltete die Haͤnde, konnte vor Beſtuͤrzung nicht ſprechen, erblaßte und ſank um. Madam Schnitzer that, als erbarmte ſie der Zu- ſtand dieſer Frau; ach! ſagte ſie, jetzt faͤllt mirs ein, es iſt eine Ungluͤckliche! (ſie wies auf die Stirn, um Verruͤcktheit des armen Weibes anzu- zeigen,) ich gebe ihr zuweilen etwas, nun findet ſie mich hier, und geraͤth ſo außer ſich. Die Alte erholte ſich, und meine Mutter ließ ihr durch den
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Sobald meine Großmutter ihre Tochter Sus-
chen erkannte, lief ſie auf dieſelbe zu, fiel ihr, ſich
zwiſchen ſie und den Nachbar eindraͤngend, mit den
Worten: ach meine Herzenstochter! um den Hals.
Madam Schnitzer konnte keinen Augenblick in dem
Wahn bleiben, daß ſie von einer Raſenden uͤber-
fallen wuͤrde, denn die bekannte Stimme ſagte
ihr, daß ihre leibhaftige Mutter ſie umklammert
haͤtte; allein weit weniger wuͤrde ſie erſchrocken ſein,
wenn dieſer Ueberfall wuͤrklich von einer tollen Per-
ſon geſchehen waͤre.
Sie beſann ſich indeſſen ſchnell, daß ſie die
Anweſenden mit einem ſolchen Vorgeben taͤuſchen
koͤnnte, riß ſich alſo mit Ungeſtuͤm los, und ſchrie,
was will mir dies Weib? ſie iſt vermuthlich nicht
bei Verſtande. Die arme Alte war von ihrer Hoͤhe
herabgeſtuͤrzt, ſie faltete die Haͤnde, konnte vor
Beſtuͤrzung nicht ſprechen, erblaßte und ſank um.
Madam Schnitzer that, als erbarmte ſie der Zu-
ſtand dieſer Frau; ach! ſagte ſie, jetzt faͤllt mirs
ein, es iſt eine Ungluͤckliche! (ſie wies auf die
Stirn, um Verruͤcktheit des armen Weibes anzu-
zeigen,) ich gebe ihr zuweilen etwas, nun findet
ſie mich hier, und geraͤth ſo außer ſich. Die Alte
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Wallenrodt, Johanna Isabella Eleonore von: Fritz, der Mann wie er nicht seyn sollte oder die Folgen einer übeln Erziehung. Bd. 2. Gera, 1800, S. 117. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wallenrodt_fritz02_1800/121>, abgerufen am 24.11.2024.
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