Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Robert, Waldmüller [d. i. Charles Edouard Duboc]: Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 10. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 203–295. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

im gegenüberliegenden Giebelhause sich verleiten ließ, noch kurz vor Mitternacht eine Latte aus dem trennenden Zaun zu heben und bis unter das erhellte Fenster hinanzuschleichen, in Sorge, wie er sagt, eine Erkrankung veranlasse das späte Brennenlassen des Lichts. Er scheint dann an dem Weinspalier bis zur Fensterhöhe hinaufgekommen zu sein und die Wittwe, den Kopf in die Hand gestützt, am Schreibtische sitzen gesehen zu haben, vor sich ausgebreitet die sämmtlichen von ihm dem seligen Pfarrer verehrten, mit Gedichten bedruckten Atlasbänder. Das eine habe sie, heißt es weiter, zu wiederholten Malen ganz sonderbar angeschaut, was ihn so "consternirte", daß er den Halt am Spalier fahren ließ und mit Geräusch auf die unter dem Fenster wuchernden Küchenkräuter hinabglitt. Die Hand des Herrn, setzt er hinzu, wachte indessen über mir, und ich kam unversehrt wieder durch den Zaun in den Schutz der Küsterei.

Es ist anzunehmen, daß die verloren gegangenen Tagebuchblätter von den weiteren Geschäftsbesprechungen zwischen dem Küster und der Wittwe Bericht geben. Mindestens wird aus einem Kragenmuster der Endsatz: "und somit ward nach mancher Sitzung der Stand der Rechnungen in gehöriger Form festgestellt", nicht wohl anders zu deuten sein. Ein Aermelausschnitt erwähnt eines Nachmittags, an welchem der Küster den fünf Kindern der Frau Anna eine Düte mit Süßigkeiten überbrachte, die er sich heimlich von Wolfenbüttel ver-

im gegenüberliegenden Giebelhause sich verleiten ließ, noch kurz vor Mitternacht eine Latte aus dem trennenden Zaun zu heben und bis unter das erhellte Fenster hinanzuschleichen, in Sorge, wie er sagt, eine Erkrankung veranlasse das späte Brennenlassen des Lichts. Er scheint dann an dem Weinspalier bis zur Fensterhöhe hinaufgekommen zu sein und die Wittwe, den Kopf in die Hand gestützt, am Schreibtische sitzen gesehen zu haben, vor sich ausgebreitet die sämmtlichen von ihm dem seligen Pfarrer verehrten, mit Gedichten bedruckten Atlasbänder. Das eine habe sie, heißt es weiter, zu wiederholten Malen ganz sonderbar angeschaut, was ihn so „consternirte“, daß er den Halt am Spalier fahren ließ und mit Geräusch auf die unter dem Fenster wuchernden Küchenkräuter hinabglitt. Die Hand des Herrn, setzt er hinzu, wachte indessen über mir, und ich kam unversehrt wieder durch den Zaun in den Schutz der Küsterei.

Es ist anzunehmen, daß die verloren gegangenen Tagebuchblätter von den weiteren Geschäftsbesprechungen zwischen dem Küster und der Wittwe Bericht geben. Mindestens wird aus einem Kragenmuster der Endsatz: „und somit ward nach mancher Sitzung der Stand der Rechnungen in gehöriger Form festgestellt“, nicht wohl anders zu deuten sein. Ein Aermelausschnitt erwähnt eines Nachmittags, an welchem der Küster den fünf Kindern der Frau Anna eine Düte mit Süßigkeiten überbrachte, die er sich heimlich von Wolfenbüttel ver-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="chapter" n="6">
        <p><pb facs="#f0064"/>
im gegenüberliegenden Giebelhause sich      verleiten ließ, noch kurz vor Mitternacht eine Latte aus dem trennenden Zaun zu heben und bis      unter das erhellte Fenster hinanzuschleichen, in Sorge, wie er sagt, eine Erkrankung veranlasse      das späte Brennenlassen des Lichts. Er scheint dann an dem Weinspalier bis zur Fensterhöhe      hinaufgekommen zu sein und die Wittwe, den Kopf in die Hand gestützt, am Schreibtische sitzen      gesehen zu haben, vor sich ausgebreitet die sämmtlichen von ihm dem seligen Pfarrer verehrten,      mit Gedichten bedruckten Atlasbänder. Das eine habe sie, heißt es weiter, zu wiederholten Malen      ganz sonderbar angeschaut, was ihn so &#x201E;consternirte&#x201C;, daß er den Halt am Spalier fahren ließ      und mit Geräusch auf die unter dem Fenster wuchernden Küchenkräuter hinabglitt. Die Hand des      Herrn, setzt er hinzu, wachte indessen über mir, und ich kam unversehrt wieder durch den Zaun      in den Schutz der Küsterei.</p><lb/>
        <p>Es ist anzunehmen, daß die verloren gegangenen Tagebuchblätter von den weiteren      Geschäftsbesprechungen zwischen dem Küster und der Wittwe Bericht geben. Mindestens wird aus      einem Kragenmuster der Endsatz: &#x201E;und somit ward nach mancher Sitzung der Stand der Rechnungen      in gehöriger Form festgestellt&#x201C;, nicht wohl anders zu deuten sein. Ein Aermelausschnitt erwähnt      eines Nachmittags, an welchem der Küster den fünf Kindern der Frau Anna eine Düte mit      Süßigkeiten überbrachte, die er sich heimlich von Wolfenbüttel ver-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0064] im gegenüberliegenden Giebelhause sich verleiten ließ, noch kurz vor Mitternacht eine Latte aus dem trennenden Zaun zu heben und bis unter das erhellte Fenster hinanzuschleichen, in Sorge, wie er sagt, eine Erkrankung veranlasse das späte Brennenlassen des Lichts. Er scheint dann an dem Weinspalier bis zur Fensterhöhe hinaufgekommen zu sein und die Wittwe, den Kopf in die Hand gestützt, am Schreibtische sitzen gesehen zu haben, vor sich ausgebreitet die sämmtlichen von ihm dem seligen Pfarrer verehrten, mit Gedichten bedruckten Atlasbänder. Das eine habe sie, heißt es weiter, zu wiederholten Malen ganz sonderbar angeschaut, was ihn so „consternirte“, daß er den Halt am Spalier fahren ließ und mit Geräusch auf die unter dem Fenster wuchernden Küchenkräuter hinabglitt. Die Hand des Herrn, setzt er hinzu, wachte indessen über mir, und ich kam unversehrt wieder durch den Zaun in den Schutz der Küsterei. Es ist anzunehmen, daß die verloren gegangenen Tagebuchblätter von den weiteren Geschäftsbesprechungen zwischen dem Küster und der Wittwe Bericht geben. Mindestens wird aus einem Kragenmuster der Endsatz: „und somit ward nach mancher Sitzung der Stand der Rechnungen in gehöriger Form festgestellt“, nicht wohl anders zu deuten sein. Ein Aermelausschnitt erwähnt eines Nachmittags, an welchem der Küster den fünf Kindern der Frau Anna eine Düte mit Süßigkeiten überbrachte, die er sich heimlich von Wolfenbüttel ver-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T12:58:19Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-16T12:58:19Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (&#xa75b;): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/waldmueller_allein_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/waldmueller_allein_1910/64
Zitationshilfe: Robert, Waldmüller [d. i. Charles Edouard Duboc]: Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 10. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 203–295. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/waldmueller_allein_1910/64>, abgerufen am 23.11.2024.