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Walcker, Karl: Die Frauenbewegung. Straßburg, 1896.

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Südrußland sehr wahrscheinlich. Ein etwaiges, kaum denkbares
deutsches Auswanderungsverbot wäre leicht zu umgehen, z. B. durch die
Route über Österreich-Ungarn oder Schweden. Ein etwaiges, mehr
wahrscheinliches Einwanderungsverbot Rußlands würde auch umgangen
oder aufgehoben werden, weil Polizeibeamte bestochen werden würden,
und weil kapitalkräftige Landkäufer verschuldeten russischen Edelleuten
und Bauern sehr erwünscht wären. Jm Kriegsfalle würden diese
Kolonisten leider die Macht Rußlands verstärken; aber es ist möglich,
daß ein Teil der Eingewanderten für Deutschland Partei nimmt; und
ein deutsch-russischer Krieg ist nur möglich, nicht sicher. Bleibt der
Frieden zwischen beiden Staaten stets erhalten, so wäre die ganze Sache
für uns recht vorteilhaft. Die Ausfuhr von deutschen Jndustrie-
erzeugnissen und Büchern würde z. B. stark steigen. Deutsche Lehre-
rinnen würden in Rußland, auch bei deutschen Familien, gute Stellen
finden. Der Einfluß Deutschlands auf Rußland würde steigen u. s. w.

Das Reich als solches kann in Argentinien schwerlich eine
Kolonie gründen. Ein solcher Versuch würde wahrscheinlich bald zu einer
Kriegserklärung der Vereinigten Staaten führen. Die Sache würde
indes auf mehr privatem, aktienrechtlichem Wege gehen, wenn große,
einflußreiche Kapitalisten der Union und Deutschlands die Sache in
die Hand nähmen, Angloamerikaner, Deutschamerikaner, Reichsdeutsche
ansiedeln hülfen. Alle brauchten nicht Landwirte zu sein, auch Hand-
werker, Kaufleute, Lehrerinnen u. s. w. wären sehr am Platze.

Jn den letzten Jahrzehnten sind deutschen und anderen Frauen
verschiedene neue Berufssphären erschlossen worden. Diese Er-
scheinung darf in Bausch und Bogen weder beklagt, noch als erfreu-
lich bezeichnet werden. Es kommt auf die Art des Berufes und auf
die Gunst, oder Ungunst der Arbeitsbedingungen an. Wenn ein
armes, schlecht genährtes, vielleicht auch schwach begabtes Mädchen
z. B. Medizin studiert, so kann sie als Gymnasiastin, Studentin,
Ärztin ihren Anstrengungen erliegen. Ein Genfer Professor der
Medizin veröffentlichte 1896 eine Statistik, nach welcher von 30-40
russischen und polnischen Studentinnen der Medizin nur wenige es
zur dauernden Ausübung des ärztlichen Berufes brachten. (Jch citiere
aus dem Gedächtnis.) Die Thätigkeit einer viel beschäftigten Tele-
graphistin, Telephonistin u. s. w. dürfte für Frauen zu anstrengend
sein. Der Setzerinnenberuf ist an und für sich wohl nicht ungeeignet,
er wirkt aber aufreibend, wenn die Arbeitszeit zu lang ist, wie z. B.

Südrußland sehr wahrscheinlich. Ein etwaiges, kaum denkbares
deutsches Auswanderungsverbot wäre leicht zu umgehen, z. B. durch die
Route über Österreich-Ungarn oder Schweden. Ein etwaiges, mehr
wahrscheinliches Einwanderungsverbot Rußlands würde auch umgangen
oder aufgehoben werden, weil Polizeibeamte bestochen werden würden,
und weil kapitalkräftige Landkäufer verschuldeten russischen Edelleuten
und Bauern sehr erwünscht wären. Jm Kriegsfalle würden diese
Kolonisten leider die Macht Rußlands verstärken; aber es ist möglich,
daß ein Teil der Eingewanderten für Deutschland Partei nimmt; und
ein deutsch-russischer Krieg ist nur möglich, nicht sicher. Bleibt der
Frieden zwischen beiden Staaten stets erhalten, so wäre die ganze Sache
für uns recht vorteilhaft. Die Ausfuhr von deutschen Jndustrie-
erzeugnissen und Büchern würde z. B. stark steigen. Deutsche Lehre-
rinnen würden in Rußland, auch bei deutschen Familien, gute Stellen
finden. Der Einfluß Deutschlands auf Rußland würde steigen u. s. w.

Das Reich als solches kann in Argentinien schwerlich eine
Kolonie gründen. Ein solcher Versuch würde wahrscheinlich bald zu einer
Kriegserklärung der Vereinigten Staaten führen. Die Sache würde
indes auf mehr privatem, aktienrechtlichem Wege gehen, wenn große,
einflußreiche Kapitalisten der Union und Deutschlands die Sache in
die Hand nähmen, Angloamerikaner, Deutschamerikaner, Reichsdeutsche
ansiedeln hülfen. Alle brauchten nicht Landwirte zu sein, auch Hand-
werker, Kaufleute, Lehrerinnen u. s. w. wären sehr am Platze.

Jn den letzten Jahrzehnten sind deutschen und anderen Frauen
verschiedene neue Berufssphären erschlossen worden. Diese Er-
scheinung darf in Bausch und Bogen weder beklagt, noch als erfreu-
lich bezeichnet werden. Es kommt auf die Art des Berufes und auf
die Gunst, oder Ungunst der Arbeitsbedingungen an. Wenn ein
armes, schlecht genährtes, vielleicht auch schwach begabtes Mädchen
z. B. Medizin studiert, so kann sie als Gymnasiastin, Studentin,
Ärztin ihren Anstrengungen erliegen. Ein Genfer Professor der
Medizin veröffentlichte 1896 eine Statistik, nach welcher von 30-40
russischen und polnischen Studentinnen der Medizin nur wenige es
zur dauernden Ausübung des ärztlichen Berufes brachten. (Jch citiere
aus dem Gedächtnis.) Die Thätigkeit einer viel beschäftigten Tele-
graphistin, Telephonistin u. s. w. dürfte für Frauen zu anstrengend
sein. Der Setzerinnenberuf ist an und für sich wohl nicht ungeeignet,
er wirkt aber aufreibend, wenn die Arbeitszeit zu lang ist, wie z. B.

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[16/0022] Südrußland sehr wahrscheinlich. Ein etwaiges, kaum denkbares deutsches Auswanderungsverbot wäre leicht zu umgehen, z. B. durch die Route über Österreich-Ungarn oder Schweden. Ein etwaiges, mehr wahrscheinliches Einwanderungsverbot Rußlands würde auch umgangen oder aufgehoben werden, weil Polizeibeamte bestochen werden würden, und weil kapitalkräftige Landkäufer verschuldeten russischen Edelleuten und Bauern sehr erwünscht wären. Jm Kriegsfalle würden diese Kolonisten leider die Macht Rußlands verstärken; aber es ist möglich, daß ein Teil der Eingewanderten für Deutschland Partei nimmt; und ein deutsch-russischer Krieg ist nur möglich, nicht sicher. Bleibt der Frieden zwischen beiden Staaten stets erhalten, so wäre die ganze Sache für uns recht vorteilhaft. Die Ausfuhr von deutschen Jndustrie- erzeugnissen und Büchern würde z. B. stark steigen. Deutsche Lehre- rinnen würden in Rußland, auch bei deutschen Familien, gute Stellen finden. Der Einfluß Deutschlands auf Rußland würde steigen u. s. w. Das Reich als solches kann in Argentinien schwerlich eine Kolonie gründen. Ein solcher Versuch würde wahrscheinlich bald zu einer Kriegserklärung der Vereinigten Staaten führen. Die Sache würde indes auf mehr privatem, aktienrechtlichem Wege gehen, wenn große, einflußreiche Kapitalisten der Union und Deutschlands die Sache in die Hand nähmen, Angloamerikaner, Deutschamerikaner, Reichsdeutsche ansiedeln hülfen. Alle brauchten nicht Landwirte zu sein, auch Hand- werker, Kaufleute, Lehrerinnen u. s. w. wären sehr am Platze. Jn den letzten Jahrzehnten sind deutschen und anderen Frauen verschiedene neue Berufssphären erschlossen worden. Diese Er- scheinung darf in Bausch und Bogen weder beklagt, noch als erfreu- lich bezeichnet werden. Es kommt auf die Art des Berufes und auf die Gunst, oder Ungunst der Arbeitsbedingungen an. Wenn ein armes, schlecht genährtes, vielleicht auch schwach begabtes Mädchen z. B. Medizin studiert, so kann sie als Gymnasiastin, Studentin, Ärztin ihren Anstrengungen erliegen. Ein Genfer Professor der Medizin veröffentlichte 1896 eine Statistik, nach welcher von 30-40 russischen und polnischen Studentinnen der Medizin nur wenige es zur dauernden Ausübung des ärztlichen Berufes brachten. (Jch citiere aus dem Gedächtnis.) Die Thätigkeit einer viel beschäftigten Tele- graphistin, Telephonistin u. s. w. dürfte für Frauen zu anstrengend sein. Der Setzerinnenberuf ist an und für sich wohl nicht ungeeignet, er wirkt aber aufreibend, wenn die Arbeitszeit zu lang ist, wie z. B.  

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Texte der ersten Frauenbewegung, betreut von Anna Pfundt und Thomas Gloning, JLU Gießen: Bereitstellung der Texttranskription. (2018-04-09T14:25:10Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Anna Pfundt: Bearbeitung der digitalen Edition. (2018-04-09T14:25:10Z)

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Zitationshilfe: Walcker, Karl: Die Frauenbewegung. Straßburg, 1896, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/walcker_frauenbewegung_1896/22>, abgerufen am 24.11.2024.