Göttliche in mir, der unveränderliche Wille, zu wählen zwischen Gutem und Bösem. Das ist die hohe ewig lebendige Liebe. Jch fühle, ich bin, bin Mensch!
Ueberall ist Leben und Wärme; ich gebe Leben und nehme Leben. Wie unendlich viel Schönes und Gutes um mich, wie viel tausend zum Genuß einladende Dinge! und ... ich kann's doch nicht mehr recht genießen. Einst hab' ich alles gewagt, alles gepflegt und genossen, ich hab' auch geduldet, o überschwänglich viel geduldet. Nun ist's aus .... aus, Bruder! Durch alle meine Nerven, meine Muskeln klang es einst, lebe, genieße! die Stimme schweigt: ich harre vergebens auf sie. Jch sehne mich nach ihr, weine nach ihr, aber sie ... schweigt.
Die Blumen meiner Kindheit sind wohl noch, blühen immer noch, aber ich kann, ich darf sie nicht pflücken. Jch sog einst meinen Muth, Glau- ben und Vertrauen aus ihren Kelchen: mir fehlt nun der Sinn für ihren Geruch.
O sieh! nicht das Untergehen fürcht' ich, aber jenes Dahinschwinden, jene allmählige Auflösung, jenes Verdorren und Vertrocknen. So mit einmal
Goͤttliche in mir, der unveraͤnderliche Wille, zu waͤhlen zwiſchen Gutem und Boͤſem. Das iſt die hohe ewig lebendige Liebe. Jch fuͤhle, ich bin, bin Menſch!
Ueberall iſt Leben und Waͤrme; ich gebe Leben und nehme Leben. Wie unendlich viel Schoͤnes und Gutes um mich, wie viel tauſend zum Genuß einladende Dinge! und … ich kann’s doch nicht mehr recht genießen. Einſt hab’ ich alles gewagt, alles gepflegt und genoſſen, ich hab’ auch geduldet, o uͤberſchwaͤnglich viel geduldet. Nun iſt’s aus .... aus, Bruder! Durch alle meine Nerven, meine Muskeln klang es einſt, lebe, genieße! die Stimme ſchweigt: ich harre vergebens auf ſie. Jch ſehne mich nach ihr, weine nach ihr, aber ſie … ſchweigt.
Die Blumen meiner Kindheit ſind wohl noch, bluͤhen immer noch, aber ich kann, ich darf ſie nicht pfluͤcken. Jch ſog einſt meinen Muth, Glau- ben und Vertrauen aus ihren Kelchen: mir fehlt nun der Sinn fuͤr ihren Geruch.
O ſieh! nicht das Untergehen fuͤrcht’ ich, aber jenes Dahinſchwinden, jene allmaͤhlige Aufloͤſung, jenes Verdorren und Vertrocknen. So mit einmal
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Goͤttliche in mir, der unveraͤnderliche Wille, zu
waͤhlen zwiſchen Gutem und Boͤſem. Das iſt die
hohe ewig lebendige Liebe. Jch fuͤhle, ich bin, bin
Menſch!
Ueberall iſt Leben und Waͤrme; ich gebe Leben
und nehme Leben. Wie unendlich viel Schoͤnes
und Gutes um mich, wie viel tauſend zum Genuß
einladende Dinge! und … ich kann’s doch nicht
mehr recht genießen. Einſt hab’ ich alles gewagt,
alles gepflegt und genoſſen, ich hab’ auch geduldet,
o uͤberſchwaͤnglich viel geduldet. Nun iſt’s aus ....
aus, Bruder! Durch alle meine Nerven, meine
Muskeln klang es einſt, lebe, genieße! die Stimme
ſchweigt: ich harre vergebens auf ſie. Jch ſehne
mich nach ihr, weine nach ihr, aber ſie … ſchweigt.
Die Blumen meiner Kindheit ſind wohl noch,
bluͤhen immer noch, aber ich kann, ich darf ſie
nicht pfluͤcken. Jch ſog einſt meinen Muth, Glau-
ben und Vertrauen aus ihren Kelchen: mir fehlt
nun der Sinn fuͤr ihren Geruch.
O ſieh! nicht das Untergehen fuͤrcht’ ich, aber
jenes Dahinſchwinden, jene allmaͤhlige Aufloͤſung,
jenes Verdorren und Vertrocknen. So mit einmal
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Waiblinger, Wilhelm: Phaëthon. Bd. 2. Stuttgart, 1823, S. 91. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/waiblinger_phaeton02_1823/91>, abgerufen am 17.07.2024.
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