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Waiblinger, Wilhelm: Phaëthon. Bd. 2. Stuttgart, 1823.

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Die Blumen der Thale waren gestorben, wie
meine seligen Träume. Jch suchte sie vergebens.
Der Schnee umhüllte die Erde, wie die Silberlok-
ken das Haupt eines Greisen, und die hochstämmi-
gen breitästigen Eichen standen da, wie die Geister
ihrer Frühlingsblüthen. Das Pente-daktylon
glänzte mit seinen Schneehäuptern, wie eine milch-
weiße Wolke, im blauen Aether.

Da half ich nun den armen Brüdern die un-
bändigen Wölfe verscheuchen von den Dörfern,
wann sie herunterkamen in heulenden Schaaren
von den Waldgeklüften des Lyceus, und des Abends
saß ich am Heerde, wärmte mich an der Flamme,
und horchte träumend den Mährchen von Sylphen
zu, die der Aberglaube von Mund zu Mund ge-
leitet.

Der Frühling kehrte wieder. Das Veilchen
blickte, wie der bescheidene Wunsch unsers Jnnern,
aus dem Schnee. Die Fluren wurden frey, und
die Störche kamen wieder von Libyens Gestaden,
und bauten ihre Nester auf alte Mauern, auf hohe
Säulencapitäle. Es grünten und blüthen Plata-
nen, Feigen und Maulbeerbäume. Jn meine Seele
kehrte kein Frühling.

Die Blumen der Thale waren geſtorben, wie
meine ſeligen Traͤume. Jch ſuchte ſie vergebens.
Der Schnee umhuͤllte die Erde, wie die Silberlok-
ken das Haupt eines Greiſen, und die hochſtaͤmmi-
gen breitaͤſtigen Eichen ſtanden da, wie die Geiſter
ihrer Fruͤhlingsbluͤthen. Das Pente-daktylon
glaͤnzte mit ſeinen Schneehaͤuptern, wie eine milch-
weiße Wolke, im blauen Aether.

Da half ich nun den armen Bruͤdern die un-
baͤndigen Woͤlfe verſcheuchen von den Doͤrfern,
wann ſie herunterkamen in heulenden Schaaren
von den Waldgekluͤften des Lyceus, und des Abends
ſaß ich am Heerde, waͤrmte mich an der Flamme,
und horchte traͤumend den Maͤhrchen von Sylphen
zu, die der Aberglaube von Mund zu Mund ge-
leitet.

Der Fruͤhling kehrte wieder. Das Veilchen
blickte, wie der beſcheidene Wunſch unſers Jnnern,
aus dem Schnee. Die Fluren wurden frey, und
die Stoͤrche kamen wieder von Libyens Geſtaden,
und bauten ihre Neſter auf alte Mauern, auf hohe
Saͤulencapitaͤle. Es gruͤnten und bluͤthen Plata-
nen, Feigen und Maulbeerbaͤume. Jn meine Seele
kehrte kein Fruͤhling.

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[30/0030] Die Blumen der Thale waren geſtorben, wie meine ſeligen Traͤume. Jch ſuchte ſie vergebens. Der Schnee umhuͤllte die Erde, wie die Silberlok- ken das Haupt eines Greiſen, und die hochſtaͤmmi- gen breitaͤſtigen Eichen ſtanden da, wie die Geiſter ihrer Fruͤhlingsbluͤthen. Das Pente-daktylon glaͤnzte mit ſeinen Schneehaͤuptern, wie eine milch- weiße Wolke, im blauen Aether. Da half ich nun den armen Bruͤdern die un- baͤndigen Woͤlfe verſcheuchen von den Doͤrfern, wann ſie herunterkamen in heulenden Schaaren von den Waldgekluͤften des Lyceus, und des Abends ſaß ich am Heerde, waͤrmte mich an der Flamme, und horchte traͤumend den Maͤhrchen von Sylphen zu, die der Aberglaube von Mund zu Mund ge- leitet. Der Fruͤhling kehrte wieder. Das Veilchen blickte, wie der beſcheidene Wunſch unſers Jnnern, aus dem Schnee. Die Fluren wurden frey, und die Stoͤrche kamen wieder von Libyens Geſtaden, und bauten ihre Neſter auf alte Mauern, auf hohe Saͤulencapitaͤle. Es gruͤnten und bluͤthen Plata- nen, Feigen und Maulbeerbaͤume. Jn meine Seele kehrte kein Fruͤhling.

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Zitationshilfe: Waiblinger, Wilhelm: Phaëthon. Bd. 2. Stuttgart, 1823, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/waiblinger_phaeton02_1823/30>, abgerufen am 21.11.2024.