Du hattest mich gesehen! Das weiße Roß, das du lenktest am Wagen, ward erfüllt mit tiefer Liebe. Das schwarze tost' und schäumte schnau- bend an dem Zügel, und zog voll wilder Brunst, den Wagen tobend mit sich fort. Jch war dein Liebling geworden, aber vor deinem Geiste schwebte die Erinnerung der ächten Schöne und füllte dei- nen Busen an mit keuscher, heiliger Scheu. Denn die wahre Schönheit ist rein, wie das weiße Sil- berlicht der Sonne, und unberührbar, wie die Un- schuld der Jungfrau.
Du zogst die Zügel und die Rosse stürzten.
Jch bebte.
Wir kamen uns nahe, und immer näher. Die Liebe quoll wie ein Strom von deinen Augen in die meinen, von meinen in die deinen. Unsere Geister waren erfüllt von ihr.
Und nun? ....
Phaethon, warum hast du deinem wüthenden Rosse die Zügel gelassen, daß es schnaubt und wie- hert und die wallende Mähne schüttelt? Kennst du nimmer den alldurchdringlichen Strahl der heiligen
Du hatteſt mich geſehen! Das weiße Roß, das du lenkteſt am Wagen, ward erfuͤllt mit tiefer Liebe. Das ſchwarze toſt’ und ſchaͤumte ſchnau- bend an dem Zuͤgel, und zog voll wilder Brunſt, den Wagen tobend mit ſich fort. Jch war dein Liebling geworden, aber vor deinem Geiſte ſchwebte die Erinnerung der aͤchten Schoͤne und fuͤllte dei- nen Buſen an mit keuſcher, heiliger Scheu. Denn die wahre Schoͤnheit iſt rein, wie das weiße Sil- berlicht der Sonne, und unberuͤhrbar, wie die Un- ſchuld der Jungfrau.
Du zogſt die Zuͤgel und die Roſſe ſtuͤrzten.
Jch bebte.
Wir kamen uns nahe, und immer naͤher. Die Liebe quoll wie ein Strom von deinen Augen in die meinen, von meinen in die deinen. Unſere Geiſter waren erfuͤllt von ihr.
Und nun? ....
Phaethon, warum haſt du deinem wuͤthenden Roſſe die Zuͤgel gelaſſen, daß es ſchnaubt und wie- hert und die wallende Maͤhne ſchuͤttelt? Kennſt du nimmer den alldurchdringlichen Strahl der heiligen
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Du hatteſt mich geſehen! Das weiße Roß,
das du lenkteſt am Wagen, ward erfuͤllt mit tiefer
Liebe. Das ſchwarze toſt’ und ſchaͤumte ſchnau-
bend an dem Zuͤgel, und zog voll wilder Brunſt,
den Wagen tobend mit ſich fort. Jch war dein
Liebling geworden, aber vor deinem Geiſte ſchwebte
die Erinnerung der aͤchten Schoͤne und fuͤllte dei-
nen Buſen an mit keuſcher, heiliger Scheu. Denn
die wahre Schoͤnheit iſt rein, wie das weiße Sil-
berlicht der Sonne, und unberuͤhrbar, wie die Un-
ſchuld der Jungfrau.
Du zogſt die Zuͤgel und die Roſſe ſtuͤrzten.
Jch bebte.
Wir kamen uns nahe, und immer naͤher. Die
Liebe quoll wie ein Strom von deinen Augen in
die meinen, von meinen in die deinen. Unſere
Geiſter waren erfuͤllt von ihr.
Und nun? ....
Phaethon, warum haſt du deinem wuͤthenden
Roſſe die Zuͤgel gelaſſen, daß es ſchnaubt und wie-
hert und die wallende Maͤhne ſchuͤttelt? Kennſt du
nimmer den alldurchdringlichen Strahl der heiligen
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Waiblinger, Wilhelm: Phaëthon. Bd. 2. Stuttgart, 1823, S. 122. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/waiblinger_phaeton02_1823/122>, abgerufen am 16.07.2024.
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