Ahnest du das nicht in stillen Nächten, wenn du allein bist, und doch so warm dich geliebt füh- lest, so innig gedrückt an den Mutterbusen der Natur.
Die Schöpfung ist wie ein ungeheurer Baum, der ewig sich gleich bleibt. Auf ihm blühen, wach- sen und welken die Welten, sie glühen im dunkeln Raume, wie freundliche, goldene Früchte im dun- kel schwellenden Laube. Unter ihm wandelt Gott. Sein Geist durchsäuselt den Baum und stärkt und erhält mit Liebe die Früchte. Sagen dir das nicht die Sterne des Himmels?
Lieber! o wie machst du mir bange? Wie möcht' ich um dich seyn, dich zu schützen, in Liebe zu erhalten. Gedenkst du der Nacht, wo wir uns gelobten, uns zu suchen im Mond, dem keuschen Bilde der ruhigen, unveränderlichen Gottheit? O geliebter Jüngling, warum vergaßest du denn den heiligen Schwur?
Die drey Säulen sind verlassen. Einsam steht der geliebte Homeroskopf, wo jene Fülle der Ge-
Ahneſt du das nicht in ſtillen Naͤchten, wenn du allein biſt, und doch ſo warm dich geliebt fuͤh- leſt, ſo innig gedruͤckt an den Mutterbuſen der Natur.
Die Schoͤpfung iſt wie ein ungeheurer Baum, der ewig ſich gleich bleibt. Auf ihm bluͤhen, wach- ſen und welken die Welten, ſie gluͤhen im dunkeln Raume, wie freundliche, goldene Fruͤchte im dun- kel ſchwellenden Laube. Unter ihm wandelt Gott. Sein Geiſt durchſaͤuſelt den Baum und ſtaͤrkt und erhaͤlt mit Liebe die Fruͤchte. Sagen dir das nicht die Sterne des Himmels?
Lieber! o wie machſt du mir bange? Wie moͤcht’ ich um dich ſeyn, dich zu ſchuͤtzen, in Liebe zu erhalten. Gedenkſt du der Nacht, wo wir uns gelobten, uns zu ſuchen im Mond, dem keuſchen Bilde der ruhigen, unveraͤnderlichen Gottheit? O geliebter Juͤngling, warum vergaßeſt du denn den heiligen Schwur?
Die drey Saͤulen ſind verlaſſen. Einſam ſteht der geliebte Homeroskopf, wo jene Fuͤlle der Ge-
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unermeßliche Meer, ewig … unergruͤnd-
lich … unausſprechlich!
Ahneſt du das nicht in ſtillen Naͤchten, wenn
du allein biſt, und doch ſo warm dich geliebt fuͤh-
leſt, ſo innig gedruͤckt an den Mutterbuſen der
Natur.
Die Schoͤpfung iſt wie ein ungeheurer Baum,
der ewig ſich gleich bleibt. Auf ihm bluͤhen, wach-
ſen und welken die Welten, ſie gluͤhen im dunkeln
Raume, wie freundliche, goldene Fruͤchte im dun-
kel ſchwellenden Laube. Unter ihm wandelt Gott.
Sein Geiſt durchſaͤuſelt den Baum und ſtaͤrkt und
erhaͤlt mit Liebe die Fruͤchte. Sagen dir das nicht
die Sterne des Himmels?
Lieber! o wie machſt du mir bange? Wie
moͤcht’ ich um dich ſeyn, dich zu ſchuͤtzen, in Liebe
zu erhalten. Gedenkſt du der Nacht, wo wir uns
gelobten, uns zu ſuchen im Mond, dem keuſchen
Bilde der ruhigen, unveraͤnderlichen Gottheit? O
geliebter Juͤngling, warum vergaßeſt du denn den
heiligen Schwur?
Die drey Saͤulen ſind verlaſſen. Einſam ſteht
der geliebte Homeroskopf, wo jene Fuͤlle der Ge-
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Waiblinger, Wilhelm: Phaëthon. Bd. 2. Stuttgart, 1823, S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/waiblinger_phaeton02_1823/101>, abgerufen am 16.07.2024.
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