Waiblinger, Wilhelm: Phaëthon. Bd. 1. Stuttgart, 1823.Phaethon an Theodor. Jch begreife, Theodor, wie die Griechen schöne Denk' an die süße Trunkenheit, womit das Phaethon an Theodor. Jch begreife, Theodor, wie die Griechen ſchoͤne Denk’ an die ſuͤße Trunkenheit, womit das <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0030" n="20"/> <div n="3"> <head> <hi rendition="#g">Phaethon an Theodor.</hi> </head><lb/> <p><hi rendition="#in">J</hi>ch begreife, Theodor, wie die Griechen ſchoͤne<lb/> Knaben und Juͤnglinge lieben konnten.</p><lb/> <p>Denk’ an die ſuͤße Trunkenheit, womit das<lb/> Vollgefuͤhl der unendlichen Lebensgluht ewig keim-<lb/> ender Natur im Morgenglanz ihrer jugendlichen<lb/> Schoͤnheit ein zart empfindendes Gemuͤth uͤberſchuͤt-<lb/> tet. Und gibt’s in unſerm rauhen Norden Geiſter,<lb/> die ſo vom Gefuͤhl der heil’gen Naturſchoͤne uͤber-<lb/> waͤltigt werden, wie allmaͤchtig war dieſe Empfin-<lb/> dung unter dem ſonnigen Himmel jenes gluͤcklichſten<lb/> der Voͤlker, deſſen Einheit mit dem Naturgeiſt, deſ-<lb/> ſen zart empfaͤnglicher Sinn fuͤr jede Beruͤhrung<lb/> der ſtummlebendigen Welt jene Orgien, jene Ora-<lb/> kel, jener geheimnißvolle Ceresdienſt und jene tau-<lb/> ſend Myſterien bezeugen, von denen uns kaum noch<lb/> eine matte Ahnung in duͤſtern und unheimlichen<lb/> Phaͤnomenen zuruͤckblieb. Dieſe ſchoͤpferiſche Herr-<lb/> lichkeit und Bluͤtenfuͤlle der beſeelten Natur war es,<lb/> was die Griechen aus der Schoͤnheit maͤnnlicher<lb/> Jugend mit unwiderſtehlicher Gewalt ausſprach.<lb/> Es war eine wunderbare, anbetende Liebe.</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [20/0030]
Phaethon an Theodor.
Jch begreife, Theodor, wie die Griechen ſchoͤne
Knaben und Juͤnglinge lieben konnten.
Denk’ an die ſuͤße Trunkenheit, womit das
Vollgefuͤhl der unendlichen Lebensgluht ewig keim-
ender Natur im Morgenglanz ihrer jugendlichen
Schoͤnheit ein zart empfindendes Gemuͤth uͤberſchuͤt-
tet. Und gibt’s in unſerm rauhen Norden Geiſter,
die ſo vom Gefuͤhl der heil’gen Naturſchoͤne uͤber-
waͤltigt werden, wie allmaͤchtig war dieſe Empfin-
dung unter dem ſonnigen Himmel jenes gluͤcklichſten
der Voͤlker, deſſen Einheit mit dem Naturgeiſt, deſ-
ſen zart empfaͤnglicher Sinn fuͤr jede Beruͤhrung
der ſtummlebendigen Welt jene Orgien, jene Ora-
kel, jener geheimnißvolle Ceresdienſt und jene tau-
ſend Myſterien bezeugen, von denen uns kaum noch
eine matte Ahnung in duͤſtern und unheimlichen
Phaͤnomenen zuruͤckblieb. Dieſe ſchoͤpferiſche Herr-
lichkeit und Bluͤtenfuͤlle der beſeelten Natur war es,
was die Griechen aus der Schoͤnheit maͤnnlicher
Jugend mit unwiderſtehlicher Gewalt ausſprach.
Es war eine wunderbare, anbetende Liebe.
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