auch dieses contrapunktische Kartenhaus über den Haufen. Die in unentstellter Anmuth sich treu gebliebene Volks¬ weise, das mit der Dichtung innig verwebte, einige und sicher begränzte Lied, hob sich auf seinen elastischen Schwingen, freudige Erlösung kündend, in die Regionen der schönheitsbedürftigen, wissenschaftlich musikalischen Kunstwelt hinein. Diese verlangte es wieder Menschen darzustellen, Menschen -- nicht Pfeifen -- singen zu las¬ sen; der Volksweise bemächtigte sie sich hierzu, und con¬ struirte aus ihr die Opern-Arie. Wie die Tanzkunst sich des Volkstanzes bemächtigte, um nach Bedürfniß an ihm sich zu erfrischen, und ihn nach ihrem maßgeblichen Modebelieben zur Kunstcombination zu verwenden, -- so machte es aber auch die vornehme Operntonkunst mit der Volksweise: nicht den ganzen Menschen hatte sie erfaßt, um ihn in seinem ganzen Maße nun künstlerisch nach sei¬ ner Naturnothwendigkeit gewähren zu lassen, sondern nur den singenden, und in seiner Singweise nicht die Volks¬ dichtung mit ihrer inwohnenden Zeugungskraft, sondern eben bloß die vom Gedicht abstrahirte melodische Weise, der sie nach Belieben nun modisch conventionelle, absicht¬ lich nichtssagensollende Wortphrasen unterlegte, nicht das schlagende Herz der Nachtigall, sondern nur ihren Kehl¬ schlag begriff man, und übte sich ihr nachzuahmen. Wie der Kunsttänzer seine Beine abrichtete, in den mannigfach¬
auch dieſes contrapunktiſche Kartenhaus über den Haufen. Die in unentſtellter Anmuth ſich treu gebliebene Volks¬ weiſe, das mit der Dichtung innig verwebte, einige und ſicher begränzte Lied, hob ſich auf ſeinen elaſtiſchen Schwingen, freudige Erlöſung kündend, in die Regionen der ſchönheitsbedürftigen, wiſſenſchaftlich muſikaliſchen Kunſtwelt hinein. Dieſe verlangte es wieder Menſchen darzuſtellen, Menſchen — nicht Pfeifen — ſingen zu laſ¬ ſen; der Volksweiſe bemächtigte ſie ſich hierzu, und con¬ ſtruirte aus ihr die Opern-Arie. Wie die Tanzkunſt ſich des Volkstanzes bemächtigte, um nach Bedürfniß an ihm ſich zu erfriſchen, und ihn nach ihrem maßgeblichen Modebelieben zur Kunſtcombination zu verwenden, — ſo machte es aber auch die vornehme Operntonkunſt mit der Volksweiſe: nicht den ganzen Menſchen hatte ſie erfaßt, um ihn in ſeinem ganzen Maße nun künſtleriſch nach ſei¬ ner Naturnothwendigkeit gewähren zu laſſen, ſondern nur den ſingenden, und in ſeiner Singweiſe nicht die Volks¬ dichtung mit ihrer inwohnenden Zeugungskraft, ſondern eben bloß die vom Gedicht abſtrahirte melodiſche Weiſe, der ſie nach Belieben nun modiſch conventionelle, abſicht¬ lich nichtsſagenſollende Wortphraſen unterlegte, nicht das ſchlagende Herz der Nachtigall, ſondern nur ihren Kehl¬ ſchlag begriff man, und übte ſich ihr nachzuahmen. Wie der Kunſttänzer ſeine Beine abrichtete, in den mannigfach¬
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auch dieſes contrapunktiſche Kartenhaus über den Haufen.
Die in unentſtellter Anmuth ſich treu gebliebene Volks¬
weiſe, das mit der Dichtung innig verwebte, einige und
ſicher begränzte Lied, hob ſich auf ſeinen elaſtiſchen
Schwingen, freudige Erlöſung kündend, in die Regionen
der ſchönheitsbedürftigen, wiſſenſchaftlich muſikaliſchen
Kunſtwelt hinein. Dieſe verlangte es wieder Menſchen
darzuſtellen, Menſchen — nicht Pfeifen — ſingen zu laſ¬
ſen; der Volksweiſe bemächtigte ſie ſich hierzu, und con¬
ſtruirte aus ihr die Opern-Arie. Wie die Tanzkunſt
ſich des Volkstanzes bemächtigte, um nach Bedürfniß an
ihm ſich zu erfriſchen, und ihn nach ihrem maßgeblichen
Modebelieben zur Kunſtcombination zu verwenden, — ſo
machte es aber auch die vornehme Operntonkunſt mit der
Volksweiſe: nicht den ganzen Menſchen hatte ſie erfaßt,
um ihn in ſeinem ganzen Maße nun künſtleriſch nach ſei¬
ner Naturnothwendigkeit gewähren zu laſſen, ſondern nur
den ſingenden, und in ſeiner Singweiſe nicht die Volks¬
dichtung mit ihrer inwohnenden Zeugungskraft, ſondern
eben bloß die vom Gedicht abſtrahirte melodiſche Weiſe,
der ſie nach Belieben nun modiſch conventionelle, abſicht¬
lich nichtsſagenſollende Wortphraſen unterlegte, nicht das
ſchlagende Herz der Nachtigall, ſondern nur ihren Kehl¬
ſchlag begriff man, und übte ſich ihr nachzuahmen. Wie
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Wagner, Richard: Das Kunstwerk der Zukunft. Leipzig, 1850, S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wagner_zukunft_1850/97>, abgerufen am 16.02.2025.
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