zeitlich wahrnehmbaren Anordnung, -- denn diese ist das Werk des Rhythmus. Die unerschöpflichste Mannigfaltig¬ keit jenes Farbenlichtwechsels ist dagegen der ewig ergiebige Quell, aus dem sie mit maßlosem Selbstgefallen unauf¬ hörlich neu sich darzustellen vermag; der Lebenshauch, der diesen rastlosen -- nach unwillkürlicher Willkür sich wie¬ derum selbstbedingenden -- Wechsel bewegt und beseelt, ist das Wesen des Tones selbst, der Athem unergründlicher, allgewaltiger Herzenssehnsucht. Im Reiche der Harmonie ist daher nicht Anfang und Ende, wie die gegenstandlose, sich selbst verzehrende Gemüthsinbrunst, unkundig ihres Quelles, nur sie selbst ist, Verlangen, Sehnen, Stürmen, Schmachten -- Ersterben, d. h. Sterben ohne in einem Gegenstande sich befriedigt zu haben, also Sterben ohne zu sterben, somit immer wieder Zurückkehr zu sich selbst.
So lange das Wort in Macht war, gebot es Anfang und Ende; als es in den bodenlosen Grund der Harmonie versank, als es nur noch "Aechzen und Seufzen der Seele" war -- wie auf der brünstigsten Höhe der katholischen Kirchenmusik, -- da ward auch das Wort willkürlich auf der Spitze jener harmonischen Säulen, der unrhythmischen Melodie, wie von Woge zu Woge geworfen, und die uner¬ meßliche harmonische Möglichkeit mußte aus sich nun selbst die Gesetze für ihr endliches Erscheinen geben. Dem Wesen der Harmonie entspricht kein anderes künstlerisches Ver¬
zeitlich wahrnehmbaren Anordnung, — denn dieſe iſt das Werk des Rhythmus. Die unerſchöpflichſte Mannigfaltig¬ keit jenes Farbenlichtwechſels iſt dagegen der ewig ergiebige Quell, aus dem ſie mit maßloſem Selbſtgefallen unauf¬ hörlich neu ſich darzuſtellen vermag; der Lebenshauch, der dieſen raſtloſen — nach unwillkürlicher Willkür ſich wie¬ derum ſelbſtbedingenden — Wechſel bewegt und beſeelt, iſt das Weſen des Tones ſelbſt, der Athem unergründlicher, allgewaltiger Herzensſehnſucht. Im Reiche der Harmonie iſt daher nicht Anfang und Ende, wie die gegenſtandloſe, ſich ſelbſt verzehrende Gemüthsinbrunſt, unkundig ihres Quelles, nur ſie ſelbſt iſt, Verlangen, Sehnen, Stürmen, Schmachten — Erſterben, d. h. Sterben ohne in einem Gegenſtande ſich befriedigt zu haben, alſo Sterben ohne zu ſterben, ſomit immer wieder Zurückkehr zu ſich ſelbſt.
So lange das Wort in Macht war, gebot es Anfang und Ende; als es in den bodenloſen Grund der Harmonie verſank, als es nur noch „Aechzen und Seufzen der Seele“ war — wie auf der brünſtigſten Höhe der katholiſchen Kirchenmuſik, — da ward auch das Wort willkürlich auf der Spitze jener harmoniſchen Säulen, der unrhythmiſchen Melodie, wie von Woge zu Woge geworfen, und die uner¬ meßliche harmoniſche Möglichkeit mußte aus ſich nun ſelbſt die Geſetze für ihr endliches Erſcheinen geben. Dem Weſen der Harmonie entſpricht kein anderes künſtleriſches Ver¬
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zeitlich wahrnehmbaren Anordnung, — denn dieſe iſt das
Werk des Rhythmus. Die unerſchöpflichſte Mannigfaltig¬
keit jenes Farbenlichtwechſels iſt dagegen der ewig ergiebige
Quell, aus dem ſie mit maßloſem Selbſtgefallen unauf¬
hörlich neu ſich darzuſtellen vermag; der Lebenshauch, der
dieſen raſtloſen — nach unwillkürlicher Willkür ſich wie¬
derum ſelbſtbedingenden — Wechſel bewegt und beſeelt, iſt
das Weſen des Tones ſelbſt, der Athem unergründlicher,
allgewaltiger Herzensſehnſucht. Im Reiche der Harmonie
iſt daher nicht Anfang und Ende, wie die gegenſtandloſe,
ſich ſelbſt verzehrende Gemüthsinbrunſt, unkundig ihres
Quelles, nur ſie ſelbſt iſt, Verlangen, Sehnen, Stürmen,
Schmachten — Erſterben, d. h. Sterben ohne in einem
Gegenſtande ſich befriedigt zu haben, alſo Sterben ohne
zu ſterben, ſomit immer wieder Zurückkehr zu ſich ſelbſt.
So lange das Wort in Macht war, gebot es Anfang
und Ende; als es in den bodenloſen Grund der Harmonie
verſank, als es nur noch „Aechzen und Seufzen der Seele“
war — wie auf der brünſtigſten Höhe der katholiſchen
Kirchenmuſik, — da ward auch das Wort willkürlich auf
der Spitze jener harmoniſchen Säulen, der unrhythmiſchen
Melodie, wie von Woge zu Woge geworfen, und die uner¬
meßliche harmoniſche Möglichkeit mußte aus ſich nun ſelbſt
die Geſetze für ihr endliches Erſcheinen geben. Dem Weſen
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Wagner, Richard: Das Kunstwerk der Zukunft. Leipzig, 1850, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wagner_zukunft_1850/93>, abgerufen am 28.07.2024.
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