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Wagner, Richard: Das Kunstwerk der Zukunft. Leipzig, 1850.

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mit civilisirt hölzerner Ausdruckslosigkeit schüchtern anzu¬
deuten erlaubt, das ist jener grundgütigen Tänzerin
gestattet auf öffentlicher Bühne mit unumwundenster Auf¬
richtigkeit auszusprechen; denn -- ihr Gebahren ist ja nur
Kunst, nicht Wahrheit, und wie sie einmal außer dem
Gesetze erklärt ist, steht sie nun über dem Gesetze: wir
können uns durch sie reizen lassen, ohne ja deshalb im
gesitteten Leben ihren Reizungen zu folgen, -- wie ja
im Gegensatze hierzu, auch die Religion Reizungen zur
Güte und Tugend darbietet, denen im gewöhnlichen
Leben uns hinzugeben wir dennoch durchaus nicht genöthigt
sind. Die Kunst ist frei, -- und die Tanzkunst zieht aus
dieser Freiheit ihren Vortheil; und daran thut sie recht,
wozu wäre sonst die Freiheit da? --

Wie mochte diese edle Kunst so tief fallen, daß sie
in unsrem öffentlichen Kunstleben nur noch als Spitze aller
in sich vereinigten Buhlerkünste sich Geltung zu verschaffen,
ihr Leben zu fristen vermag? Daß sie in den unehren¬
haftesten Fesseln niedrigster Abhängigkeit unrettbar sich
gefangen geben muß? -- Weil alles aus seinem Zusam¬
menhange gerissene, Einzelne, Egoistische, in Wahrheit
unfrei, d. h. abhängig von einem ihm Fremdartigen
werden muß. Der bloße leibliche Sinnenmensch, der
bloße Gefühls- der bloße Verstandesmensch, sind zu jeder
Selbstständigkeit als wirklicher Mensch unfähig; die Aus¬

mit civiliſirt hölzerner Ausdrucksloſigkeit ſchüchtern anzu¬
deuten erlaubt, das iſt jener grundgütigen Tänzerin
geſtattet auf öffentlicher Bühne mit unumwundenſter Auf¬
richtigkeit auszuſprechen; denn — ihr Gebahren iſt ja nur
Kunſt, nicht Wahrheit, und wie ſie einmal außer dem
Geſetze erklärt iſt, ſteht ſie nun über dem Geſetze: wir
können uns durch ſie reizen laſſen, ohne ja deshalb im
geſitteten Leben ihren Reizungen zu folgen, — wie ja
im Gegenſatze hierzu, auch die Religion Reizungen zur
Güte und Tugend darbietet, denen im gewöhnlichen
Leben uns hinzugeben wir dennoch durchaus nicht genöthigt
ſind. Die Kunſt iſt frei, — und die Tanzkunſt zieht aus
dieſer Freiheit ihren Vortheil; und daran thut ſie recht,
wozu wäre ſonſt die Freiheit da? —

Wie mochte dieſe edle Kunſt ſo tief fallen, daß ſie
in unſrem öffentlichen Kunſtleben nur noch als Spitze aller
in ſich vereinigten Buhlerkünſte ſich Geltung zu verſchaffen,
ihr Leben zu friſten vermag? Daß ſie in den unehren¬
hafteſten Feſſeln niedrigſter Abhängigkeit unrettbar ſich
gefangen geben muß? — Weil alles aus ſeinem Zuſam¬
menhange geriſſene, Einzelne, Egoiſtiſche, in Wahrheit
unfrei, d. h. abhängig von einem ihm Fremdartigen
werden muß. Der bloße leibliche Sinnenmenſch, der
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[62/0078] mit civiliſirt hölzerner Ausdrucksloſigkeit ſchüchtern anzu¬ deuten erlaubt, das iſt jener grundgütigen Tänzerin geſtattet auf öffentlicher Bühne mit unumwundenſter Auf¬ richtigkeit auszuſprechen; denn — ihr Gebahren iſt ja nur Kunſt, nicht Wahrheit, und wie ſie einmal außer dem Geſetze erklärt iſt, ſteht ſie nun über dem Geſetze: wir können uns durch ſie reizen laſſen, ohne ja deshalb im geſitteten Leben ihren Reizungen zu folgen, — wie ja im Gegenſatze hierzu, auch die Religion Reizungen zur Güte und Tugend darbietet, denen im gewöhnlichen Leben uns hinzugeben wir dennoch durchaus nicht genöthigt ſind. Die Kunſt iſt frei, — und die Tanzkunſt zieht aus dieſer Freiheit ihren Vortheil; und daran thut ſie recht, wozu wäre ſonſt die Freiheit da? — Wie mochte dieſe edle Kunſt ſo tief fallen, daß ſie in unſrem öffentlichen Kunſtleben nur noch als Spitze aller in ſich vereinigten Buhlerkünſte ſich Geltung zu verſchaffen, ihr Leben zu friſten vermag? Daß ſie in den unehren¬ hafteſten Feſſeln niedrigſter Abhängigkeit unrettbar ſich gefangen geben muß? — Weil alles aus ſeinem Zuſam¬ menhange geriſſene, Einzelne, Egoiſtiſche, in Wahrheit unfrei, d. h. abhängig von einem ihm Fremdartigen werden muß. Der bloße leibliche Sinnenmenſch, der bloße Gefühls- der bloße Verſtandesmenſch, ſind zu jeder Selbſtſtändigkeit als wirklicher Menſch unfähig; die Aus¬

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Zitationshilfe: Wagner, Richard: Das Kunstwerk der Zukunft. Leipzig, 1850, S. 62. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wagner_zukunft_1850/78>, abgerufen am 22.11.2024.