lichen gegenwärtigen Leben nicht mehr zu finden weiß. Drängt es ihn, im Streben nach Erlösung, zur rückhalts¬ losen Anerkennung der Natur, kann er sich mit dieser nur in ihrer getreuesten Darstellung, in der sinnlich gegen¬ wärtigen That des Kunstwerkes versöhnen, so ersieht er, daß diese Versöhnung nicht durch Anerkennung und Dar¬ stellung der sinnlichen Gegenwart, nämlich dieses durch die Mode eben entstellten Lebens, zu gewinnen ist. Unwill¬ kürlich muß er deshalb in seinem künstlerischen Erlösungs¬ drange willkürlich verfahren; er muß die Natur, die im gesunden Leben sich ihm ganz von selbst darbieten würde, da aufsuchen, wo er sie in minderer, endlich in mindester Entstellung zu gewahren vermag. Ueberall und zu jeder Zeit hat jedoch der Mensch der Natur das Gewand -- wenn nicht der Mode -- doch der Sitte umgeworfen; die natürlichste, einfachste, edelste und schönste Sitte ist aller¬ dings die mindeste Entstellung der Natur, sie ist vielmehr das ihr entsprechendste menschliche Kleid: die Nachahmung, Darstellung dieser Sitte, -- ohne welche der moderne Künstler von nirgends her wiederum die Natur darzustellen vermag, -- ist dem heutigen Leben gegenüber aber den¬ noch ebenfalls ein willkürliches, von der Absicht unerlös¬ bar beherrschtes Verfahren, und was so im redlichsten Streben nach Natur geschaffen und gestaltet wurde, er¬ scheint, sobald es vor das öffentliche Leben der Gegenwart
lichen gegenwärtigen Leben nicht mehr zu finden weiß. Drängt es ihn, im Streben nach Erlöſung, zur rückhalts¬ loſen Anerkennung der Natur, kann er ſich mit dieſer nur in ihrer getreueſten Darſtellung, in der ſinnlich gegen¬ wärtigen That des Kunſtwerkes verſöhnen, ſo erſieht er, daß dieſe Verſöhnung nicht durch Anerkennung und Dar¬ ſtellung der ſinnlichen Gegenwart, nämlich dieſes durch die Mode eben entſtellten Lebens, zu gewinnen iſt. Unwill¬ kürlich muß er deshalb in ſeinem künſtleriſchen Erlöſungs¬ drange willkürlich verfahren; er muß die Natur, die im geſunden Leben ſich ihm ganz von ſelbſt darbieten würde, da aufſuchen, wo er ſie in minderer, endlich in mindeſter Entſtellung zu gewahren vermag. Ueberall und zu jeder Zeit hat jedoch der Menſch der Natur das Gewand — wenn nicht der Mode — doch der Sitte umgeworfen; die natürlichſte, einfachſte, edelſte und ſchönſte Sitte iſt aller¬ dings die mindeſte Entſtellung der Natur, ſie iſt vielmehr das ihr entſprechendſte menſchliche Kleid: die Nachahmung, Darſtellung dieſer Sitte, — ohne welche der moderne Künſtler von nirgends her wiederum die Natur darzuſtellen vermag, — iſt dem heutigen Leben gegenüber aber den¬ noch ebenfalls ein willkürliches, von der Abſicht unerlös¬ bar beherrſchtes Verfahren, und was ſo im redlichſten Streben nach Natur geſchaffen und geſtaltet wurde, er¬ ſcheint, ſobald es vor das öffentliche Leben der Gegenwart
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lichen gegenwärtigen Leben nicht mehr zu finden weiß.
Drängt es ihn, im Streben nach Erlöſung, zur rückhalts¬
loſen Anerkennung der Natur, kann er ſich mit dieſer nur
in ihrer getreueſten Darſtellung, in der ſinnlich gegen¬
wärtigen That des Kunſtwerkes verſöhnen, ſo erſieht er,
daß dieſe Verſöhnung nicht durch Anerkennung und Dar¬
ſtellung der ſinnlichen Gegenwart, nämlich dieſes durch die
Mode eben entſtellten Lebens, zu gewinnen iſt. Unwill¬
kürlich muß er deshalb in ſeinem künſtleriſchen Erlöſungs¬
drange willkürlich verfahren; er muß die Natur, die im
geſunden Leben ſich ihm ganz von ſelbſt darbieten würde,
da aufſuchen, wo er ſie in minderer, endlich in mindeſter
Entſtellung zu gewahren vermag. Ueberall und zu jeder
Zeit hat jedoch der Menſch der Natur das Gewand —
wenn nicht der Mode — doch der Sitte umgeworfen; die
natürlichſte, einfachſte, edelſte und ſchönſte Sitte iſt aller¬
dings die mindeſte Entſtellung der Natur, ſie iſt vielmehr
das ihr entſprechendſte menſchliche Kleid: die Nachahmung,
Darſtellung dieſer Sitte, — ohne welche der moderne
Künſtler von nirgends her wiederum die Natur darzuſtellen
vermag, — iſt dem heutigen Leben gegenüber aber den¬
noch ebenfalls ein willkürliches, von der Abſicht unerlös¬
bar beherrſchtes Verfahren, und was ſo im redlichſten
Streben nach Natur geſchaffen und geſtaltet wurde, er¬
ſcheint, ſobald es vor das öffentliche Leben der Gegenwart
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Wagner, Richard: Das Kunstwerk der Zukunft. Leipzig, 1850, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wagner_zukunft_1850/46>, abgerufen am 17.02.2025.
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