5. Die kunstwidrige Gestaltung des Lebens der Gegenwart unter der Herrschaft der Abstraktion und der Mode.
Das Erste, der Anfang und Grund alles Vorhan¬ denen und Denkbaren, ist das wirkliche sinnliche Sein. Das Innewerden seines Lebensbedürfnisses als des ge¬ meinsamen Lebensbedürfnisses seiner Gattung, im Unterschiede von der Natur und der in ihr enthaltenen, vom Menschen unterschiedenen, Gattungen lebendiger Wesen, -- ist der Anfang und Grund des menschlichen Denkens. Das Denken ist demnach die Fähigkeit des Menschen. das Wirkliche und Sinnliche nach seinen Aeuße¬ rungen nicht nur zu empfinden, sondern nach seiner Wesen¬ heit zu unterscheiden, endlich in seinem Zusammenhange zu erfassen und sich darzustellen. Der Begriff von einer Sache ist das im Denken dargestellte Bild seines wirklichen Wesens: die Darstellung der Bilder aller erkenntlichen Wesenheiten in einem Gesammtbilde, in welchem das Den¬ ken sich die im Begriff dargestellte Wesenheit aller Reali¬ täten nach ihrem Zusammenhange vergegenständlicht, ist das Werk der höchsten Tätigkeit der menschlichen Seele, des Geistes. Muß in diesem Gesammtbilde der Mensch das Bild, den Begriff, auch seines eigenen Wesens mit inbegriffen haben, ja -- ist dieses vergegenständlichte eigene
5. Die kunſtwidrige Geſtaltung des Lebens der Gegenwart unter der Herrſchaft der Abſtraktion und der Mode.
Das Erſte, der Anfang und Grund alles Vorhan¬ denen und Denkbaren, iſt das wirkliche ſinnliche Sein. Das Innewerden ſeines Lebensbedürfniſſes als des ge¬ meinsamen Lebensbedürfniſſes ſeiner Gattung, im Unterſchiede von der Natur und der in ihr enthaltenen, vom Menſchen unterſchiedenen, Gattungen lebendiger Weſen, — iſt der Anfang und Grund des menſchlichen Denkens. Das Denken iſt demnach die Fähigkeit des Menſchen. das Wirkliche und Sinnliche nach ſeinen Aeuße¬ rungen nicht nur zu empfinden, ſondern nach ſeiner Weſen¬ heit zu unterſcheiden, endlich in ſeinem Zuſammenhange zu erfaſſen und ſich darzuſtellen. Der Begriff von einer Sache iſt das im Denken dargeſtellte Bild ſeines wirklichen Weſens: die Darstellung der Bilder aller erkenntlichen Weſenheiten in einem Geſammtbilde, in welchem das Den¬ ken ſich die im Begriff dargeſtellte Weſenheit aller Reali¬ täten nach ihrem Zuſammenhange vergegenſtändlicht, iſt das Werk der höchſten Tätigkeit der menſchlichen Seele, des Geiſtes. Muß in dieſem Geſammtbilde der Menſch das Bild, den Begriff, auch ſeines eigenen Weſens mit inbegriffen haben, ja — iſt dieſes vergegenſtändlichte eigene
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5.
Die kunſtwidrige Geſtaltung des Lebens der Gegenwart unter der
Herrſchaft der Abſtraktion und der Mode.
Das Erſte, der Anfang und Grund alles Vorhan¬
denen und Denkbaren, iſt das wirkliche ſinnliche Sein.
Das Innewerden ſeines Lebensbedürfniſſes als des ge¬
meinsamen Lebensbedürfniſſes ſeiner Gattung, im
Unterſchiede von der Natur und der in ihr enthaltenen,
vom Menſchen unterſchiedenen, Gattungen lebendiger
Weſen, — iſt der Anfang und Grund des menſchlichen
Denkens. Das Denken iſt demnach die Fähigkeit des
Menſchen. das Wirkliche und Sinnliche nach ſeinen Aeuße¬
rungen nicht nur zu empfinden, ſondern nach ſeiner Weſen¬
heit zu unterſcheiden, endlich in ſeinem Zuſammenhange zu
erfaſſen und ſich darzuſtellen. Der Begriff von einer
Sache iſt das im Denken dargeſtellte Bild ſeines wirklichen
Weſens: die Darstellung der Bilder aller erkenntlichen
Weſenheiten in einem Geſammtbilde, in welchem das Den¬
ken ſich die im Begriff dargeſtellte Weſenheit aller Reali¬
täten nach ihrem Zuſammenhange vergegenſtändlicht, iſt
das Werk der höchſten Tätigkeit der menſchlichen Seele,
des Geiſtes. Muß in dieſem Geſammtbilde der Menſch
das Bild, den Begriff, auch ſeines eigenen Weſens mit
inbegriffen haben, ja — iſt dieſes vergegenſtändlichte eigene
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Wagner, Richard: Das Kunstwerk der Zukunft. Leipzig, 1850, S. 23. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wagner_zukunft_1850/39>, abgerufen am 22.07.2024.
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