Wagner, Richard: Das Kunstwerk der Zukunft. Leipzig, 1850.Das Volk war von jeher der Inbegriff aller der Das Volk war von jeher der Inbegriff aller der <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0026" n="10"/> <p>Das Volk war von jeher der Inbegriff <hi rendition="#g">aller der<lb/> Einzelnen</hi>, welche ein <hi rendition="#g">Gemeinſames</hi> ausmachten. Es<lb/> war vom Anfange die Familie und die Geſchlechter; dann<lb/> die durch Sprachgleichheit vereinigten Geſchlechter als<lb/> Nation. Praktiſch durch die römiſche Weltherrſchaft, welche<lb/> die Nationen verſchlang, und theoretiſch durch das Chriſten¬<lb/> thum, welches nur noch den Menſchen, d. h. den chriſtli¬<lb/> chen, nicht nationalen Menſchen, zuließ, hat ſich der Be¬<lb/> griff des Volkes dermaßen erweitert oder auch verflüchtigt,<lb/> daß wir in ihm entweder den Menſchen überhaupt, oder<lb/> nach willkürlicher politiſcher Annahme, einen gewiſſen, ge¬<lb/> wöhnlich den nichtbeſitzenden, Theil der Staatsbürgerſchaft<lb/> begreifen können. Außer einer frivolen, hat dieſer Name<lb/> aber auch eine unverwiſchbare <hi rendition="#g">moraliſche</hi> Bedeutung er¬<lb/> halten, und um dieſer letzteren Willen geſchieht es nament¬<lb/> lich, daß in bewegungsvollen, beängſtigenden Zeiten, ſich<lb/> gern Alles zum Volke zählt, Jeder vorgiebt für das Wohl<lb/> des Volkes beſorgt zu ſein, Keiner ſich von ihm getrennt<lb/> wiſſen will. Auch in unſrer neueſten Zeit iſt daher im ver¬<lb/> ſchiedenartigſten Sinne oft die Frage aufgeworfen worden:<lb/> wer iſt denn das Volk? Kann in der Geſammtheit aller<lb/> Staatsangehörigen ein beſonderer Theil, eine gewiſſe Par¬<lb/> tei derſelben, dieſen Namen für ſich allein anſprechen?<lb/> Sind wir nicht vielmehr Alle „das Volk“, vom Bettler<lb/> bis zum Fürſten?</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [10/0026]
Das Volk war von jeher der Inbegriff aller der
Einzelnen, welche ein Gemeinſames ausmachten. Es
war vom Anfange die Familie und die Geſchlechter; dann
die durch Sprachgleichheit vereinigten Geſchlechter als
Nation. Praktiſch durch die römiſche Weltherrſchaft, welche
die Nationen verſchlang, und theoretiſch durch das Chriſten¬
thum, welches nur noch den Menſchen, d. h. den chriſtli¬
chen, nicht nationalen Menſchen, zuließ, hat ſich der Be¬
griff des Volkes dermaßen erweitert oder auch verflüchtigt,
daß wir in ihm entweder den Menſchen überhaupt, oder
nach willkürlicher politiſcher Annahme, einen gewiſſen, ge¬
wöhnlich den nichtbeſitzenden, Theil der Staatsbürgerſchaft
begreifen können. Außer einer frivolen, hat dieſer Name
aber auch eine unverwiſchbare moraliſche Bedeutung er¬
halten, und um dieſer letzteren Willen geſchieht es nament¬
lich, daß in bewegungsvollen, beängſtigenden Zeiten, ſich
gern Alles zum Volke zählt, Jeder vorgiebt für das Wohl
des Volkes beſorgt zu ſein, Keiner ſich von ihm getrennt
wiſſen will. Auch in unſrer neueſten Zeit iſt daher im ver¬
ſchiedenartigſten Sinne oft die Frage aufgeworfen worden:
wer iſt denn das Volk? Kann in der Geſammtheit aller
Staatsangehörigen ein beſonderer Theil, eine gewiſſe Par¬
tei derſelben, dieſen Namen für ſich allein anſprechen?
Sind wir nicht vielmehr Alle „das Volk“, vom Bettler
bis zum Fürſten?
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