Das Volk war von jeher der Inbegriff aller der Einzelnen, welche ein Gemeinsames ausmachten. Es war vom Anfange die Familie und die Geschlechter; dann die durch Sprachgleichheit vereinigten Geschlechter als Nation. Praktisch durch die römische Weltherrschaft, welche die Nationen verschlang, und theoretisch durch das Christen¬ thum, welches nur noch den Menschen, d. h. den christli¬ chen, nicht nationalen Menschen, zuließ, hat sich der Be¬ griff des Volkes dermaßen erweitert oder auch verflüchtigt, daß wir in ihm entweder den Menschen überhaupt, oder nach willkürlicher politischer Annahme, einen gewissen, ge¬ wöhnlich den nichtbesitzenden, Theil der Staatsbürgerschaft begreifen können. Außer einer frivolen, hat dieser Name aber auch eine unverwischbare moralische Bedeutung er¬ halten, und um dieser letzteren Willen geschieht es nament¬ lich, daß in bewegungsvollen, beängstigenden Zeiten, sich gern Alles zum Volke zählt, Jeder vorgiebt für das Wohl des Volkes besorgt zu sein, Keiner sich von ihm getrennt wissen will. Auch in unsrer neuesten Zeit ist daher im ver¬ schiedenartigsten Sinne oft die Frage aufgeworfen worden: wer ist denn das Volk? Kann in der Gesammtheit aller Staatsangehörigen ein besonderer Theil, eine gewisse Par¬ tei derselben, diesen Namen für sich allein ansprechen? Sind wir nicht vielmehr Alle "das Volk", vom Bettler bis zum Fürsten?
Das Volk war von jeher der Inbegriff aller der Einzelnen, welche ein Gemeinſames ausmachten. Es war vom Anfange die Familie und die Geſchlechter; dann die durch Sprachgleichheit vereinigten Geſchlechter als Nation. Praktiſch durch die römiſche Weltherrſchaft, welche die Nationen verſchlang, und theoretiſch durch das Chriſten¬ thum, welches nur noch den Menſchen, d. h. den chriſtli¬ chen, nicht nationalen Menſchen, zuließ, hat ſich der Be¬ griff des Volkes dermaßen erweitert oder auch verflüchtigt, daß wir in ihm entweder den Menſchen überhaupt, oder nach willkürlicher politiſcher Annahme, einen gewiſſen, ge¬ wöhnlich den nichtbeſitzenden, Theil der Staatsbürgerſchaft begreifen können. Außer einer frivolen, hat dieſer Name aber auch eine unverwiſchbare moraliſche Bedeutung er¬ halten, und um dieſer letzteren Willen geſchieht es nament¬ lich, daß in bewegungsvollen, beängſtigenden Zeiten, ſich gern Alles zum Volke zählt, Jeder vorgiebt für das Wohl des Volkes beſorgt zu ſein, Keiner ſich von ihm getrennt wiſſen will. Auch in unſrer neueſten Zeit iſt daher im ver¬ ſchiedenartigſten Sinne oft die Frage aufgeworfen worden: wer iſt denn das Volk? Kann in der Geſammtheit aller Staatsangehörigen ein beſonderer Theil, eine gewiſſe Par¬ tei derſelben, dieſen Namen für ſich allein anſprechen? Sind wir nicht vielmehr Alle „das Volk“, vom Bettler bis zum Fürſten?
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0026"n="10"/><p>Das Volk war von jeher der Inbegriff <hirendition="#g">aller der<lb/>
Einzelnen</hi>, welche ein <hirendition="#g">Gemeinſames</hi> ausmachten. Es<lb/>
war vom Anfange die Familie und die Geſchlechter; dann<lb/>
die durch Sprachgleichheit vereinigten Geſchlechter als<lb/>
Nation. Praktiſch durch die römiſche Weltherrſchaft, welche<lb/>
die Nationen verſchlang, und theoretiſch durch das Chriſten¬<lb/>
thum, welches nur noch den Menſchen, d. h. den chriſtli¬<lb/>
chen, nicht nationalen Menſchen, zuließ, hat ſich der Be¬<lb/>
griff des Volkes dermaßen erweitert oder auch verflüchtigt,<lb/>
daß wir in ihm entweder den Menſchen überhaupt, oder<lb/>
nach willkürlicher politiſcher Annahme, einen gewiſſen, ge¬<lb/>
wöhnlich den nichtbeſitzenden, Theil der Staatsbürgerſchaft<lb/>
begreifen können. Außer einer frivolen, hat dieſer Name<lb/>
aber auch eine unverwiſchbare <hirendition="#g">moraliſche</hi> Bedeutung er¬<lb/>
halten, und um dieſer letzteren Willen geſchieht es nament¬<lb/>
lich, daß in bewegungsvollen, beängſtigenden Zeiten, ſich<lb/>
gern Alles zum Volke zählt, Jeder vorgiebt für das Wohl<lb/>
des Volkes beſorgt zu ſein, Keiner ſich von ihm getrennt<lb/>
wiſſen will. Auch in unſrer neueſten Zeit iſt daher im ver¬<lb/>ſchiedenartigſten Sinne oft die Frage aufgeworfen worden:<lb/>
wer iſt denn das Volk? Kann in der Geſammtheit aller<lb/>
Staatsangehörigen ein beſonderer Theil, eine gewiſſe Par¬<lb/>
tei derſelben, dieſen Namen für ſich allein anſprechen?<lb/>
Sind wir nicht vielmehr Alle „das Volk“, vom Bettler<lb/>
bis zum Fürſten?</p><lb/></div></div></body></text></TEI>
[10/0026]
Das Volk war von jeher der Inbegriff aller der
Einzelnen, welche ein Gemeinſames ausmachten. Es
war vom Anfange die Familie und die Geſchlechter; dann
die durch Sprachgleichheit vereinigten Geſchlechter als
Nation. Praktiſch durch die römiſche Weltherrſchaft, welche
die Nationen verſchlang, und theoretiſch durch das Chriſten¬
thum, welches nur noch den Menſchen, d. h. den chriſtli¬
chen, nicht nationalen Menſchen, zuließ, hat ſich der Be¬
griff des Volkes dermaßen erweitert oder auch verflüchtigt,
daß wir in ihm entweder den Menſchen überhaupt, oder
nach willkürlicher politiſcher Annahme, einen gewiſſen, ge¬
wöhnlich den nichtbeſitzenden, Theil der Staatsbürgerſchaft
begreifen können. Außer einer frivolen, hat dieſer Name
aber auch eine unverwiſchbare moraliſche Bedeutung er¬
halten, und um dieſer letzteren Willen geſchieht es nament¬
lich, daß in bewegungsvollen, beängſtigenden Zeiten, ſich
gern Alles zum Volke zählt, Jeder vorgiebt für das Wohl
des Volkes beſorgt zu ſein, Keiner ſich von ihm getrennt
wiſſen will. Auch in unſrer neueſten Zeit iſt daher im ver¬
ſchiedenartigſten Sinne oft die Frage aufgeworfen worden:
wer iſt denn das Volk? Kann in der Geſammtheit aller
Staatsangehörigen ein beſonderer Theil, eine gewiſſe Par¬
tei derſelben, dieſen Namen für ſich allein anſprechen?
Sind wir nicht vielmehr Alle „das Volk“, vom Bettler
bis zum Fürſten?
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Wagner, Richard: Das Kunstwerk der Zukunft. Leipzig, 1850, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wagner_zukunft_1850/26>, abgerufen am 22.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.