nicht füglich gedacht werden kann. Huldigt der Mensch im vollen Leben dem Prinzipe der Schönheit, bildet er seinen eigenen lebendigen Leib schön, und freut er sich dieser an ihm selbst kundgegebenen Schönheit, so ist Gegenstand und künstlerischer Stoff der Darstellung dieser Schönheit und der Freude an ihr, unzweifelhaft der vollkommene, warme, lebendige Mensch selbst: sein Kunstwerk ist das Drama, und die Erlösung der Plastik ist genau die der Entzau¬ berung des Steines in das Fleisch und Blut des Menschen, aus dem Bewegungslosen in die Bewegung, aus dem Monumentalen in das Gegenwärtige. Erst wenn der Drang des künstlerischen Bildhauers in die Seele des Tänzers, des mimischen Darstellers, des singenden und sprechenden, übergegangen ist, kann dieser Drang als wirklich gestillt gedacht werden. Erst wenn die Bildhauerkunst nicht mehr existirt, oder nach einer anderen, als der menschlich leiblichen Richtung hin -- als Skulptur in die Architektur aufgegangen, wenn die starre Einsamkeit dieses einen, in Stein gehauenen Menschen in die unendlich strömende Vielheit der lebendi¬ gen wirklichen Menschen sich aufgelöst haben wird; wenn wir die Erinnerung an geliebte Todte in ewig neu lebendem, seelenvollem Fleisch und Blut, nicht wiederum in todtem Erz oder Marmor uns vorführen; wenn wir aus dem Stein uns die Bauwerke zur Einhegung des lebendigen
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nicht füglich gedacht werden kann. Huldigt der Menſch im vollen Leben dem Prinzipe der Schönheit, bildet er ſeinen eigenen lebendigen Leib ſchön, und freut er ſich dieſer an ihm ſelbſt kundgegebenen Schönheit, ſo iſt Gegenſtand und künſtleriſcher Stoff der Darſtellung dieſer Schönheit und der Freude an ihr, unzweifelhaft der vollkommene, warme, lebendige Menſch ſelbſt: ſein Kunſtwerk iſt das Drama, und die Erlöſung der Plaſtik iſt genau die der Entzau¬ berung des Steines in das Fleiſch und Blut des Menſchen, aus dem Bewegungsloſen in die Bewegung, aus dem Monumentalen in das Gegenwärtige. Erſt wenn der Drang des künſtleriſchen Bildhauers in die Seele des Tänzers, des mimiſchen Darſtellers, des ſingenden und ſprechenden, übergegangen iſt, kann dieſer Drang als wirklich geſtillt gedacht werden. Erſt wenn die Bildhauerkunſt nicht mehr exiſtirt, oder nach einer anderen, als der menſchlich leiblichen Richtung hin — als Skulptur in die Architektur aufgegangen, wenn die ſtarre Einſamkeit dieſes einen, in Stein gehauenen Menſchen in die unendlich ſtrömende Vielheit der lebendi¬ gen wirklichen Menſchen ſich aufgelöſt haben wird; wenn wir die Erinnerung an geliebte Todte in ewig neu lebendem, ſeelenvollem Fleiſch und Blut, nicht wiederum in todtem Erz oder Marmor uns vorführen; wenn wir aus dem Stein uns die Bauwerke zur Einhegung des lebendigen
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nicht füglich gedacht werden kann. Huldigt der Menſch im
vollen Leben dem Prinzipe der Schönheit, bildet er ſeinen
eigenen lebendigen Leib ſchön, und freut er ſich dieſer an
ihm ſelbſt kundgegebenen Schönheit, ſo iſt Gegenſtand und
künſtleriſcher Stoff der Darſtellung dieſer Schönheit und
der Freude an ihr, unzweifelhaft der vollkommene, warme,
lebendige Menſch ſelbſt: ſein Kunſtwerk iſt das Drama,
und die Erlöſung der Plaſtik iſt genau die der Entzau¬
berung des Steines in das Fleiſch und Blut des
Menſchen, aus dem Bewegungsloſen in die
Bewegung, aus dem Monumentalen in das
Gegenwärtige. Erſt wenn der Drang des künſtleriſchen
Bildhauers in die Seele des Tänzers, des mimiſchen
Darſtellers, des ſingenden und ſprechenden, übergegangen
iſt, kann dieſer Drang als wirklich geſtillt gedacht werden.
Erſt wenn die Bildhauerkunſt nicht mehr exiſtirt, oder nach
einer anderen, als der menſchlich leiblichen Richtung hin
— als Skulptur in die Architektur aufgegangen, wenn
die ſtarre Einſamkeit dieſes einen, in Stein gehauenen
Menſchen in die unendlich ſtrömende Vielheit der lebendi¬
gen wirklichen Menſchen ſich aufgelöſt haben wird; wenn
wir die Erinnerung an geliebte Todte in ewig neu lebendem,
ſeelenvollem Fleiſch und Blut, nicht wiederum in todtem
Erz oder Marmor uns vorführen; wenn wir aus dem
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Wagner, Richard: Das Kunstwerk der Zukunft. Leipzig, 1850, S. 169. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wagner_zukunft_1850/185>, abgerufen am 23.07.2024.
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