Geschlechtserinnerungen aber zu religiösen Vorstellungen. So mannigfaltig und reich nun diese Erinnerungen und Vorstellungen durch geschlechtliche Vermischung, so wie, namentlich auf den Wanderungen der Stämme, durch Wechsel der Natureindrücke bei den lebhaftesten Geschichts¬ völkern sich angehäuft, gedrängt und neugestaltet haben mögen, -- soweit diese Völker in Sage und Religion aus den engeren Kreisen der Nationalität das Gedenken ihres besonderen Ursprunges somit auch bis zur Annahme allge¬ meiner Herkunft und Abstammung der Menschen über¬ haupt von ihren Göttern, als von den Göttern überhaupt ausdehnen mochten, -- so hat doch zu jeder Zeit, wo Mythus und Religion im lebendigen Glauben eines Volks¬ stammes lebten, das speciell einigende Band gerade dieses Stammes immer nur in eben diesem Mythus und eben dieser Religion gelegen. Die gemeinsame Feier der Erinnerung ihrer gemeinschaftlichen Herkunft begingen die hellenischen Stämme in ihren religiösen Festen, d. h. in der Verherr¬ lichung und Verehrung des Gottes oder des Helden, in welchem sie sich als ein gemeinsames Ganzes inbegriffen fühlten. Am Lebendigsten, wie aus Bedürfniß das immer weiter in die Vergangenheit Entrückte sich mit höchster Deutlichkeit festzuhalten, versinnlichten sie ihre Nationaler¬ innerungen endlich aber in der Kunst, und hier am unmittel¬ barsten im vollendeten Kunstwerke, der Tragödie. Das
Geſchlechtserinnerungen aber zu religiöſen Vorſtellungen. So mannigfaltig und reich nun dieſe Erinnerungen und Vorſtellungen durch geſchlechtliche Vermiſchung, ſo wie, namentlich auf den Wanderungen der Stämme, durch Wechſel der Natureindrücke bei den lebhafteſten Geſchichts¬ völkern ſich angehäuft, gedrängt und neugeſtaltet haben mögen, — ſoweit dieſe Völker in Sage und Religion aus den engeren Kreiſen der Nationalität das Gedenken ihres beſonderen Urſprunges ſomit auch bis zur Annahme allge¬ meiner Herkunft und Abſtammung der Menſchen über¬ haupt von ihren Göttern, als von den Göttern überhaupt ausdehnen mochten, — ſo hat doch zu jeder Zeit, wo Mythus und Religion im lebendigen Glauben eines Volks¬ ſtammes lebten, das ſpeciell einigende Band gerade dieſes Stammes immer nur in eben dieſem Mythus und eben dieſer Religion gelegen. Die gemeinſame Feier der Erinnerung ihrer gemeinſchaftlichen Herkunft begingen die helleniſchen Stämme in ihren religiöſen Feſten, d. h. in der Verherr¬ lichung und Verehrung des Gottes oder des Helden, in welchem ſie ſich als ein gemeinſames Ganzes inbegriffen fühlten. Am Lebendigſten, wie aus Bedürfniß das immer weiter in die Vergangenheit Entrückte ſich mit höchſter Deutlichkeit feſtzuhalten, verſinnlichten ſie ihre Nationaler¬ innerungen endlich aber in der Kunſt, und hier am unmittel¬ barſten im vollendeten Kunſtwerke, der Tragödie. Das
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Geſchlechtserinnerungen aber zu religiöſen Vorſtellungen.
So mannigfaltig und reich nun dieſe Erinnerungen und
Vorſtellungen durch geſchlechtliche Vermiſchung, ſo wie,
namentlich auf den Wanderungen der Stämme, durch
Wechſel der Natureindrücke bei den lebhafteſten Geſchichts¬
völkern ſich angehäuft, gedrängt und neugeſtaltet haben
mögen, — ſoweit dieſe Völker in Sage und Religion aus
den engeren Kreiſen der Nationalität das Gedenken ihres
beſonderen Urſprunges ſomit auch bis zur Annahme allge¬
meiner Herkunft und Abſtammung der Menſchen über¬
haupt von ihren Göttern, als von den Göttern überhaupt
ausdehnen mochten, — ſo hat doch zu jeder Zeit, wo
Mythus und Religion im lebendigen Glauben eines Volks¬
ſtammes lebten, das ſpeciell einigende Band gerade dieſes
Stammes immer nur in eben dieſem Mythus und eben dieſer
Religion gelegen. Die gemeinſame Feier der Erinnerung
ihrer gemeinſchaftlichen Herkunft begingen die helleniſchen
Stämme in ihren religiöſen Feſten, d. h. in der Verherr¬
lichung und Verehrung des Gottes oder des Helden, in
welchem ſie ſich als ein gemeinſames Ganzes inbegriffen
fühlten. Am Lebendigſten, wie aus Bedürfniß das immer
weiter in die Vergangenheit Entrückte ſich mit höchſter
Deutlichkeit feſtzuhalten, verſinnlichten ſie ihre Nationaler¬
innerungen endlich aber in der Kunſt, und hier am unmittel¬
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Wagner, Richard: Das Kunstwerk der Zukunft. Leipzig, 1850, S. 154. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wagner_zukunft_1850/170>, abgerufen am 24.07.2024.
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