üppiger Fülle sich dem Sonnenlichte erschließt, -- dem Lichte, das die schattende Wolke zuvor der Flur entzogen hatte. So soll der dichterische Gedanke das Leben wieder befruch¬ ten, nicht als eitle, wesenlose Wolke zwischen das Leben und dem Lichte sich mehr lagern.
Was auf jener Höhe die Dichtkunst gewahrte, war eben nur das Leben: je höher sie sich hob, desto übersicht¬ licher vermochte sie es zu erspähen; in je größerem Zusam¬ menhange sie es so aber zu erfassen im Stande war, desto lebhafter steigerte in ihr sich das Verlangen, diesen Zu¬ sammenhang zu ergründen, gründlich zu erforschen. So ward die Dichtkunst Wissenschaft, Philosophie. Dem Drange, die Natur und die Menschen ihrem Wesen nach zu erkennen, verdanken wir die unendlich reiche Lite¬ ratur, deren Kern jenes gedankenhafte Dichten ist, wie es sich uns in der Menschen- und Naturkunde und in der Philosophie kund giebt. Je lebhafter in diesen Wissen¬ schaften das Verlangen nach Darstellung des Erkannten sich ausspricht, desto mehr nähern sie sich wieder dem künst¬ lerischen Dichten, und der erreichbarsten Vollendung in der Versinnlichung des allgemeinen Gegenstandes ge¬ hören die herrlichen Werke aus diesem Kreise der Literatur an. Nichts Anderes vermag aber endlich die tiefste und allgemeinste Wissenschaft zu wissen, als das Leben selbst, und der Inhalt des Lebens ist kein
üppiger Fülle ſich dem Sonnenlichte erſchließt, — dem Lichte, das die ſchattende Wolke zuvor der Flur entzogen hatte. So ſoll der dichteriſche Gedanke das Leben wieder befruch¬ ten, nicht als eitle, weſenloſe Wolke zwiſchen das Leben und dem Lichte ſich mehr lagern.
Was auf jener Höhe die Dichtkunſt gewahrte, war eben nur das Leben: je höher ſie ſich hob, deſto überſicht¬ licher vermochte ſie es zu erſpähen; in je größerem Zuſam¬ menhange ſie es ſo aber zu erfaſſen im Stande war, deſto lebhafter ſteigerte in ihr ſich das Verlangen, dieſen Zu¬ ſammenhang zu ergründen, gründlich zu erforſchen. So ward die Dichtkunſt Wiſſenſchaft, Philoſophie. Dem Drange, die Natur und die Menſchen ihrem Weſen nach zu erkennen, verdanken wir die unendlich reiche Lite¬ ratur, deren Kern jenes gedankenhafte Dichten iſt, wie es ſich uns in der Menſchen- und Naturkunde und in der Philoſophie kund giebt. Je lebhafter in dieſen Wiſſen¬ ſchaften das Verlangen nach Darſtellung des Erkannten ſich ausſpricht, deſto mehr nähern ſie ſich wieder dem künſt¬ leriſchen Dichten, und der erreichbarſten Vollendung in der Verſinnlichung des allgemeinen Gegenſtandes ge¬ hören die herrlichen Werke aus dieſem Kreiſe der Literatur an. Nichts Anderes vermag aber endlich die tiefſte und allgemeinſte Wiſſenſchaft zu wiſſen, als das Leben ſelbſt, und der Inhalt des Lebens iſt kein
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üppiger Fülle ſich dem Sonnenlichte erſchließt, — dem Lichte,
das die ſchattende Wolke zuvor der Flur entzogen hatte.
So ſoll der dichteriſche Gedanke das Leben wieder befruch¬
ten, nicht als eitle, weſenloſe Wolke zwiſchen das Leben
und dem Lichte ſich mehr lagern.
Was auf jener Höhe die Dichtkunſt gewahrte, war
eben nur das Leben: je höher ſie ſich hob, deſto überſicht¬
licher vermochte ſie es zu erſpähen; in je größerem Zuſam¬
menhange ſie es ſo aber zu erfaſſen im Stande war, deſto
lebhafter ſteigerte in ihr ſich das Verlangen, dieſen Zu¬
ſammenhang zu ergründen, gründlich zu erforſchen. So
ward die Dichtkunſt Wiſſenſchaft, Philoſophie.
Dem Drange, die Natur und die Menſchen ihrem Weſen
nach zu erkennen, verdanken wir die unendlich reiche Lite¬
ratur, deren Kern jenes gedankenhafte Dichten iſt, wie es
ſich uns in der Menſchen- und Naturkunde und in der
Philoſophie kund giebt. Je lebhafter in dieſen Wiſſen¬
ſchaften das Verlangen nach Darſtellung des Erkannten
ſich ausſpricht, deſto mehr nähern ſie ſich wieder dem künſt¬
leriſchen Dichten, und der erreichbarſten Vollendung in
der Verſinnlichung des allgemeinen Gegenſtandes ge¬
hören die herrlichen Werke aus dieſem Kreiſe der
Literatur an. Nichts Anderes vermag aber endlich
die tiefſte und allgemeinſte Wiſſenſchaft zu wiſſen, als
das Leben ſelbſt, und der Inhalt des Lebens iſt kein
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Wagner, Richard: Das Kunstwerk der Zukunft. Leipzig, 1850, S. 113. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wagner_zukunft_1850/129>, abgerufen am 27.07.2024.
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