Wagner, Richard: Das Kunstwerk der Zukunft. Leipzig, 1850.kunstwerk auf: da bemächtigten sich die Professoren und Das Wesen der Dichtkunst, nach der Auflösung der kunſtwerk auf: da bemächtigten ſich die Profeſſoren und Das Weſen der Dichtkunſt, nach der Auflöſung der <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0125" n="109"/> kunſtwerk auf: da bemächtigten ſich die Profeſſoren und<lb/> Doctoren der ehrbaren Literatenzunft des in Trümmer zer¬<lb/> fallenden Gebäudes, ſchleppten Balken und Steine beiſeit,<lb/> um an ihnen zu forſchen, zu combiniren und zu meditiren.<lb/> Ariſtophaniſch lachend ließ das Volk den gelehrten Inſecten<lb/> den Abgang ſeines Verzehrten, warf die Kunſt auf ein paar<lb/> tauſend Jahre zur Seite, und machte aus innerer Noth¬<lb/> wendigkeit Weltgeſchichte, während Jene alexandriniſchen<lb/> Oberhofbefehl Literaturgeſchichte zuſammenſtoppelten. —</p><lb/> <p>Das Weſen der Dichtkunſt, nach der Auflöſung der<lb/> Tragödie und nach ihrem Ausſcheiden aus der Gemeinſam¬<lb/> keit mit der darſtellenden Tanz- und Tonkunſt, läßt ſich —<lb/> trotz der ungeheuren Anſprüche, die ſie erhob, — leicht<lb/> genug zu einer genügenden Ueberſicht darſtellen. Die ein¬<lb/> ſame Dichtkunſt — <hi rendition="#g">dichtete</hi> nicht mehr; ſie ſtellte nicht<lb/> mehr dar, ſie <hi rendition="#g">beſchrieb</hi> nur; ſie vermittelte nur, ſie gab<lb/> nicht mehr unmittelbar; ſie ſtellte wahrhaft Gedichtetes zu¬<lb/> ſammen, aber ohne das lebendige Band des Zuſammen¬<lb/> haltens; ſie regte an, ohne die Anregung zu befriedigen;<lb/> ſie reizte zum Leben, ohne ſelbſt zum Leben zu gelangen;<lb/> ſie gab den Katalog einer Bildergallerie, aber nicht die<lb/> Bilder ſelbſt. Das winterliche Geäſt der Sprache, ohne<lb/> des ſommerlichen Schmuckes des lebendigen Laubes der<lb/> Töne, verkrüppelte ſich zu den dürren, lautloſen Zeichen der<lb/><hi rendition="#g">Schrift</hi>: ſtatt dem Ohre theilte ſtumm ſie ſich nun<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [109/0125]
kunſtwerk auf: da bemächtigten ſich die Profeſſoren und
Doctoren der ehrbaren Literatenzunft des in Trümmer zer¬
fallenden Gebäudes, ſchleppten Balken und Steine beiſeit,
um an ihnen zu forſchen, zu combiniren und zu meditiren.
Ariſtophaniſch lachend ließ das Volk den gelehrten Inſecten
den Abgang ſeines Verzehrten, warf die Kunſt auf ein paar
tauſend Jahre zur Seite, und machte aus innerer Noth¬
wendigkeit Weltgeſchichte, während Jene alexandriniſchen
Oberhofbefehl Literaturgeſchichte zuſammenſtoppelten. —
Das Weſen der Dichtkunſt, nach der Auflöſung der
Tragödie und nach ihrem Ausſcheiden aus der Gemeinſam¬
keit mit der darſtellenden Tanz- und Tonkunſt, läßt ſich —
trotz der ungeheuren Anſprüche, die ſie erhob, — leicht
genug zu einer genügenden Ueberſicht darſtellen. Die ein¬
ſame Dichtkunſt — dichtete nicht mehr; ſie ſtellte nicht
mehr dar, ſie beſchrieb nur; ſie vermittelte nur, ſie gab
nicht mehr unmittelbar; ſie ſtellte wahrhaft Gedichtetes zu¬
ſammen, aber ohne das lebendige Band des Zuſammen¬
haltens; ſie regte an, ohne die Anregung zu befriedigen;
ſie reizte zum Leben, ohne ſelbſt zum Leben zu gelangen;
ſie gab den Katalog einer Bildergallerie, aber nicht die
Bilder ſelbſt. Das winterliche Geäſt der Sprache, ohne
des ſommerlichen Schmuckes des lebendigen Laubes der
Töne, verkrüppelte ſich zu den dürren, lautloſen Zeichen der
Schrift: ſtatt dem Ohre theilte ſtumm ſie ſich nun
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