kunstwerk auf: da bemächtigten sich die Professoren und Doctoren der ehrbaren Literatenzunft des in Trümmer zer¬ fallenden Gebäudes, schleppten Balken und Steine beiseit, um an ihnen zu forschen, zu combiniren und zu meditiren. Aristophanisch lachend ließ das Volk den gelehrten Insecten den Abgang seines Verzehrten, warf die Kunst auf ein paar tausend Jahre zur Seite, und machte aus innerer Noth¬ wendigkeit Weltgeschichte, während Jene alexandrinischen Oberhofbefehl Literaturgeschichte zusammenstoppelten. --
Das Wesen der Dichtkunst, nach der Auflösung der Tragödie und nach ihrem Ausscheiden aus der Gemeinsam¬ keit mit der darstellenden Tanz- und Tonkunst, läßt sich -- trotz der ungeheuren Ansprüche, die sie erhob, -- leicht genug zu einer genügenden Uebersicht darstellen. Die ein¬ same Dichtkunst -- dichtete nicht mehr; sie stellte nicht mehr dar, sie beschrieb nur; sie vermittelte nur, sie gab nicht mehr unmittelbar; sie stellte wahrhaft Gedichtetes zu¬ sammen, aber ohne das lebendige Band des Zusammen¬ haltens; sie regte an, ohne die Anregung zu befriedigen; sie reizte zum Leben, ohne selbst zum Leben zu gelangen; sie gab den Katalog einer Bildergallerie, aber nicht die Bilder selbst. Das winterliche Geäst der Sprache, ohne des sommerlichen Schmuckes des lebendigen Laubes der Töne, verkrüppelte sich zu den dürren, lautlosen Zeichen der Schrift: statt dem Ohre theilte stumm sie sich nun
kunſtwerk auf: da bemächtigten ſich die Profeſſoren und Doctoren der ehrbaren Literatenzunft des in Trümmer zer¬ fallenden Gebäudes, ſchleppten Balken und Steine beiſeit, um an ihnen zu forſchen, zu combiniren und zu meditiren. Ariſtophaniſch lachend ließ das Volk den gelehrten Inſecten den Abgang ſeines Verzehrten, warf die Kunſt auf ein paar tauſend Jahre zur Seite, und machte aus innerer Noth¬ wendigkeit Weltgeſchichte, während Jene alexandriniſchen Oberhofbefehl Literaturgeſchichte zuſammenſtoppelten. —
Das Weſen der Dichtkunſt, nach der Auflöſung der Tragödie und nach ihrem Ausſcheiden aus der Gemeinſam¬ keit mit der darſtellenden Tanz- und Tonkunſt, läßt ſich — trotz der ungeheuren Anſprüche, die ſie erhob, — leicht genug zu einer genügenden Ueberſicht darſtellen. Die ein¬ ſame Dichtkunſt — dichtete nicht mehr; ſie ſtellte nicht mehr dar, ſie beſchrieb nur; ſie vermittelte nur, ſie gab nicht mehr unmittelbar; ſie ſtellte wahrhaft Gedichtetes zu¬ ſammen, aber ohne das lebendige Band des Zuſammen¬ haltens; ſie regte an, ohne die Anregung zu befriedigen; ſie reizte zum Leben, ohne ſelbſt zum Leben zu gelangen; ſie gab den Katalog einer Bildergallerie, aber nicht die Bilder ſelbſt. Das winterliche Geäſt der Sprache, ohne des ſommerlichen Schmuckes des lebendigen Laubes der Töne, verkrüppelte ſich zu den dürren, lautloſen Zeichen der Schrift: ſtatt dem Ohre theilte ſtumm ſie ſich nun
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kunſtwerk auf: da bemächtigten ſich die Profeſſoren und
Doctoren der ehrbaren Literatenzunft des in Trümmer zer¬
fallenden Gebäudes, ſchleppten Balken und Steine beiſeit,
um an ihnen zu forſchen, zu combiniren und zu meditiren.
Ariſtophaniſch lachend ließ das Volk den gelehrten Inſecten
den Abgang ſeines Verzehrten, warf die Kunſt auf ein paar
tauſend Jahre zur Seite, und machte aus innerer Noth¬
wendigkeit Weltgeſchichte, während Jene alexandriniſchen
Oberhofbefehl Literaturgeſchichte zuſammenſtoppelten. —
Das Weſen der Dichtkunſt, nach der Auflöſung der
Tragödie und nach ihrem Ausſcheiden aus der Gemeinſam¬
keit mit der darſtellenden Tanz- und Tonkunſt, läßt ſich —
trotz der ungeheuren Anſprüche, die ſie erhob, — leicht
genug zu einer genügenden Ueberſicht darſtellen. Die ein¬
ſame Dichtkunſt — dichtete nicht mehr; ſie ſtellte nicht
mehr dar, ſie beſchrieb nur; ſie vermittelte nur, ſie gab
nicht mehr unmittelbar; ſie ſtellte wahrhaft Gedichtetes zu¬
ſammen, aber ohne das lebendige Band des Zuſammen¬
haltens; ſie regte an, ohne die Anregung zu befriedigen;
ſie reizte zum Leben, ohne ſelbſt zum Leben zu gelangen;
ſie gab den Katalog einer Bildergallerie, aber nicht die
Bilder ſelbſt. Das winterliche Geäſt der Sprache, ohne
des ſommerlichen Schmuckes des lebendigen Laubes der
Töne, verkrüppelte ſich zu den dürren, lautloſen Zeichen der
Schrift: ſtatt dem Ohre theilte ſtumm ſie ſich nun
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Wagner, Richard: Das Kunstwerk der Zukunft. Leipzig, 1850, S. 109. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wagner_zukunft_1850/125>, abgerufen am 22.07.2024.
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