Dialoge. Diese episch-lyrischen Darstellungen bilden das unverkennbare Mittelglied zwischen der eigentlichen ältesten Lyrik und der Tragödie, den normalen Uebergangspunkt von jener zu dieser. Die Tragödie war daher das in das öffentliche politische Leben eintretende Volkskunstwerk, und an ihrem Erscheinen können wir sehr deutlich das von einander abweichende Verfahren in der Weise des Kunst¬ schaffens des Volkes und des blos literärgeschichtlichen Machens der sogannten gebildeten Kunstwelt wahrnehmen. Als nämlich das lebendige Epos zum Gegenstande kritisch- literarischer Vergnügungen des peisistratischen Hofes wurde, war dieser im Volksleben in Wahrheit bereits verblüht, -- aber nicht etwa, weil dem Volke der Athem ausge¬ gangen, sondern weil es das Alte bereits zu überbieten, aus unversiegbarer, künstlerischer Fülle das unvollkommenere Kunstwerk schon zu dem vollkommeneren auszudehnen ver¬ mochte. Denn während jene Professoren und Literatur¬ forscher im fürstlichen Schlosse an der Construction eines literarischen Homeros arbeiteten, mit Behagen an ihrer eigenen Unproductivität sich dem Staunen über ihre Klugheit hingaben, vermöge deren sie einzig das Ver¬ lorengegangene und nicht im Leben mehr Vorhandene zu verstehen vermochten, -- brachte Thespis bereits seinen Karren nach Athen geschleppt, stellte ihn an den Mauern der Hofburg auf, rüstete die Bühne, betrat sie, aus dem
Dialoge. Dieſe epiſch-lyriſchen Darſtellungen bilden das unverkennbare Mittelglied zwiſchen der eigentlichen älteſten Lyrik und der Tragödie, den normalen Uebergangspunkt von jener zu dieſer. Die Tragödie war daher das in das öffentliche politiſche Leben eintretende Volkskunſtwerk, und an ihrem Erſcheinen können wir ſehr deutlich das von einander abweichende Verfahren in der Weiſe des Kunſt¬ ſchaffens des Volkes und des blos literärgeſchichtlichen Machens der ſogannten gebildeten Kunſtwelt wahrnehmen. Als nämlich das lebendige Epos zum Gegenſtande kritiſch- literariſcher Vergnügungen des peiſiſtratiſchen Hofes wurde, war dieſer im Volksleben in Wahrheit bereits verblüht, — aber nicht etwa, weil dem Volke der Athem ausge¬ gangen, ſondern weil es das Alte bereits zu überbieten, aus unverſiegbarer, künſtleriſcher Fülle das unvollkommenere Kunſtwerk ſchon zu dem vollkommeneren auszudehnen ver¬ mochte. Denn während jene Profeſſoren und Literatur¬ forſcher im fürſtlichen Schloſſe an der Conſtruction eines literariſchen Homeros arbeiteten, mit Behagen an ihrer eigenen Unproductivität ſich dem Staunen über ihre Klugheit hingaben, vermöge deren ſie einzig das Ver¬ lorengegangene und nicht im Leben mehr Vorhandene zu verſtehen vermochten, — brachte Theſpis bereits ſeinen Karren nach Athen geſchleppt, ſtellte ihn an den Mauern der Hofburg auf, rüſtete die Bühne, betrat ſie, aus dem
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Dialoge. Dieſe epiſch-lyriſchen Darſtellungen bilden das
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Lyrik und der Tragödie, den normalen Uebergangspunkt
von jener zu dieſer. Die Tragödie war daher das in das
öffentliche politiſche Leben eintretende Volkskunſtwerk, und
an ihrem Erſcheinen können wir ſehr deutlich das von
einander abweichende Verfahren in der Weiſe des Kunſt¬
ſchaffens des Volkes und des blos literärgeſchichtlichen
Machens der ſogannten gebildeten Kunſtwelt wahrnehmen.
Als nämlich das lebendige Epos zum Gegenſtande kritiſch-
literariſcher Vergnügungen des peiſiſtratiſchen Hofes wurde,
war dieſer im Volksleben in Wahrheit bereits verblüht,
— aber nicht etwa, weil dem Volke der Athem ausge¬
gangen, ſondern weil es das Alte bereits zu überbieten,
aus unverſiegbarer, künſtleriſcher Fülle das unvollkommenere
Kunſtwerk ſchon zu dem vollkommeneren auszudehnen ver¬
mochte. Denn während jene Profeſſoren und Literatur¬
forſcher im fürſtlichen Schloſſe an der Conſtruction
eines literariſchen Homeros arbeiteten, mit Behagen
an ihrer eigenen Unproductivität ſich dem Staunen über
ihre Klugheit hingaben, vermöge deren ſie einzig das Ver¬
lorengegangene und nicht im Leben mehr Vorhandene zu
verſtehen vermochten, — brachte Theſpis bereits ſeinen
Karren nach Athen geſchleppt, ſtellte ihn an den Mauern
der Hofburg auf, rüſtete die Bühne, betrat ſie, aus dem
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Wagner, Richard: Das Kunstwerk der Zukunft. Leipzig, 1850, S. 107. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wagner_zukunft_1850/123>, abgerufen am 22.07.2024.
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