Wagner, Richard: Das Kunstwerk der Zukunft. Leipzig, 1850.Ohren mußte die tönende Herzensstimme, ihren nur nach Auch das wirkliche Volksepos war keineswegs eine Ohren mußte die tönende Herzensſtimme, ihren nur nach Auch das wirkliche Volksepos war keineswegs eine <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0122" n="106"/> Ohren mußte die tönende Herzensſtimme, ihren nur nach<lb/> Fraß ſpähenden Augen der anmuthig und kühn ſich be¬<lb/> wegende menſchliche Leib <hi rendition="#g">der</hi> Art erſt imponiren, daß ſie<lb/> unwillkürlich in dieſen Menſchen nicht mehr nur ein Ob¬<lb/> jekt ihres Magens, nicht nur einen freſſenswerthen, ſondern<lb/> auch hörens- und ſehenswerthen Gegenſtand erkannten, ehe<lb/> ſie fähig wurden, ſeinen moraliſchen Sentenzen Auf¬<lb/> merkſamkeit zu ſchenken.</p><lb/> <p>Auch das wirkliche <hi rendition="#g">Volksepos</hi> war keineswegs eine<lb/> etwa nur recitirte Dichtung: die Geſänge des Homeros, wie<lb/> wir ſie jetzt vorliegen haben, ſind aus der kritiſch ſondern¬<lb/> den und zuſammenfügenden Redaktion einer Zeit hervor¬<lb/> gegangen, in der das wahrhafte Epos bereits nicht mehr<lb/> lebte. Als Solon Geſetze gab und Peiſiſtratos eine poli¬<lb/> tiſche Hofhaltung einführte, ſuchte man bereits nach den<lb/> Trümmern des untergegangenen Volksepos, und richtete<lb/> ſich das Geſammelte zum Gebrauch der Lektüre her —<lb/> ungefähr wie in der Hohenſtaufenzeit die Bruchſtücke des<lb/> verlorengegangenen Nibelungenliedes. Ehe dieſe epiſchen<lb/> Geſänge zum Gegenſtande ſolcher literariſchen Sorge ge¬<lb/> worden waren, hatten ſie aber in dem Volke durch Stimme<lb/> und Gebärde unterſtützt, als leiblich dargeſtellte Kunſtwerke<lb/> geblüht, gleichſam als verdichtete, gefeſtigte, lyriſche Ge¬<lb/> ſangstänze, mit vorherrſchendem Verweilen bei der Schil¬<lb/> derung der Handlung und der Wiederholung heldenhafter<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [106/0122]
Ohren mußte die tönende Herzensſtimme, ihren nur nach
Fraß ſpähenden Augen der anmuthig und kühn ſich be¬
wegende menſchliche Leib der Art erſt imponiren, daß ſie
unwillkürlich in dieſen Menſchen nicht mehr nur ein Ob¬
jekt ihres Magens, nicht nur einen freſſenswerthen, ſondern
auch hörens- und ſehenswerthen Gegenſtand erkannten, ehe
ſie fähig wurden, ſeinen moraliſchen Sentenzen Auf¬
merkſamkeit zu ſchenken.
Auch das wirkliche Volksepos war keineswegs eine
etwa nur recitirte Dichtung: die Geſänge des Homeros, wie
wir ſie jetzt vorliegen haben, ſind aus der kritiſch ſondern¬
den und zuſammenfügenden Redaktion einer Zeit hervor¬
gegangen, in der das wahrhafte Epos bereits nicht mehr
lebte. Als Solon Geſetze gab und Peiſiſtratos eine poli¬
tiſche Hofhaltung einführte, ſuchte man bereits nach den
Trümmern des untergegangenen Volksepos, und richtete
ſich das Geſammelte zum Gebrauch der Lektüre her —
ungefähr wie in der Hohenſtaufenzeit die Bruchſtücke des
verlorengegangenen Nibelungenliedes. Ehe dieſe epiſchen
Geſänge zum Gegenſtande ſolcher literariſchen Sorge ge¬
worden waren, hatten ſie aber in dem Volke durch Stimme
und Gebärde unterſtützt, als leiblich dargeſtellte Kunſtwerke
geblüht, gleichſam als verdichtete, gefeſtigte, lyriſche Ge¬
ſangstänze, mit vorherrſchendem Verweilen bei der Schil¬
derung der Handlung und der Wiederholung heldenhafter
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