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Wagner, Richard: Das Kunstwerk der Zukunft. Leipzig, 1850.

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dichten, wieder aufzunehmen, so gewännen wir in den zu¬
sammengestellten Namen der drei urmenschlichen Künste,
Tanz-, Ton- und Tichtkunst, ein schön bezeichnendes
sinnliches Bild von dem Wesen dieser dreieinigen Schwe¬
stern, nämlich einen vollkommenen Stabreim, wie er un¬
serer Sprache ursprünglich zu eigen ist. Bezeichnend wäre
dieser Stabreim besonders aber auch wegen der Stellung,
welche die "Tichtkunst" in ihm einnähme: als letztes Glied
des Reimes schlösse sie nämlich diesen erst wirklich zum
Reime ab, indem zwei stabverwandte Worte erst durch das
Hinzutreten oder Erzeugen des Dritten zum vollkommenen
Reime erhoben werden, so daß ohne dieses dritte Glied die
beiden ersten nur zufällig vorhanden; mit ihm und durch
dasselbe erst als nothwendig dargestellt sind, -- wie Mann
und Weib erst durch das von ihnen gezeugte Kind als
wirklich nothwendig bedingt erscheinen.

Wie in diesem Reime die Wirkung von hinten nach
vorn, von dem Schlusse zu dem Anfange zurückgeht, so
schreitet sie aber mit nicht minderer Nothwendigkeit eben¬
falls umgekehrt vor: Die Anfangsglieder erhalten durch
das Schlußglied wohl erst ihre Bedeutung als Reim, das
Schlußglied ohne die Anfangsglieder ist aber an und für
sich gar nicht erst denkbar. So vermag die Dichtkunst das
wirkliche Kunstwerk -- und dieß ist nur das sinnlich un¬
mittelbar dargestellte, -- gar nicht zu schaffen, ohne die

dichten, wieder aufzunehmen, ſo gewännen wir in den zu¬
ſammengeſtellten Namen der drei urmenſchlichen Künſte,
Tanz-, Ton- und Tichtkunſt, ein ſchön bezeichnendes
ſinnliches Bild von dem Weſen dieſer dreieinigen Schwe¬
ſtern, nämlich einen vollkommenen Stabreim, wie er un¬
ſerer Sprache urſprünglich zu eigen iſt. Bezeichnend wäre
dieſer Stabreim beſonders aber auch wegen der Stellung,
welche die „Tichtkunſt“ in ihm einnähme: als letztes Glied
des Reimes ſchlöſſe ſie nämlich dieſen erſt wirklich zum
Reime ab, indem zwei ſtabverwandte Worte erſt durch das
Hinzutreten oder Erzeugen des Dritten zum vollkommenen
Reime erhoben werden, ſo daß ohne dieſes dritte Glied die
beiden erſten nur zufällig vorhanden; mit ihm und durch
daſſelbe erſt als nothwendig dargeſtellt ſind, — wie Mann
und Weib erſt durch das von ihnen gezeugte Kind als
wirklich nothwendig bedingt erſcheinen.

Wie in dieſem Reime die Wirkung von hinten nach
vorn, von dem Schluſſe zu dem Anfange zurückgeht, ſo
ſchreitet ſie aber mit nicht minderer Nothwendigkeit eben¬
falls umgekehrt vor: Die Anfangsglieder erhalten durch
das Schlußglied wohl erſt ihre Bedeutung als Reim, das
Schlußglied ohne die Anfangsglieder iſt aber an und für
ſich gar nicht erſt denkbar. So vermag die Dichtkunſt das
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[104/0120] dichten, wieder aufzunehmen, ſo gewännen wir in den zu¬ ſammengeſtellten Namen der drei urmenſchlichen Künſte, Tanz-, Ton- und Tichtkunſt, ein ſchön bezeichnendes ſinnliches Bild von dem Weſen dieſer dreieinigen Schwe¬ ſtern, nämlich einen vollkommenen Stabreim, wie er un¬ ſerer Sprache urſprünglich zu eigen iſt. Bezeichnend wäre dieſer Stabreim beſonders aber auch wegen der Stellung, welche die „Tichtkunſt“ in ihm einnähme: als letztes Glied des Reimes ſchlöſſe ſie nämlich dieſen erſt wirklich zum Reime ab, indem zwei ſtabverwandte Worte erſt durch das Hinzutreten oder Erzeugen des Dritten zum vollkommenen Reime erhoben werden, ſo daß ohne dieſes dritte Glied die beiden erſten nur zufällig vorhanden; mit ihm und durch daſſelbe erſt als nothwendig dargeſtellt ſind, — wie Mann und Weib erſt durch das von ihnen gezeugte Kind als wirklich nothwendig bedingt erſcheinen. Wie in dieſem Reime die Wirkung von hinten nach vorn, von dem Schluſſe zu dem Anfange zurückgeht, ſo ſchreitet ſie aber mit nicht minderer Nothwendigkeit eben¬ falls umgekehrt vor: Die Anfangsglieder erhalten durch das Schlußglied wohl erſt ihre Bedeutung als Reim, das Schlußglied ohne die Anfangsglieder iſt aber an und für ſich gar nicht erſt denkbar. So vermag die Dichtkunſt das wirkliche Kunſtwerk — und dieß iſt nur das ſinnlich un¬ mittelbar dargeſtellte, — gar nicht zu ſchaffen, ohne die

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Zitationshilfe: Wagner, Richard: Das Kunstwerk der Zukunft. Leipzig, 1850, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wagner_zukunft_1850/120>, abgerufen am 26.11.2024.