entstellen. Die Tonkunst, die nur an dem scheuen, aller Einbildungen, aller Täuschungen fähigen Gehör ihr äußer¬ lich menschliches Maß fand, mußte sich abstraktere Gesetze bilden, und diese Gesetze zu einem vollständigen wissen¬ schaftlichen Systeme verbinden. Dieß System war die Ba¬ sis der modernen Musik: auf dieses System wurde gebaut, auf ihm Thurm auf Thurm gestellt, und je kühner der Bau, desto unerläßlicher die feste Grundlage, -- diese Grundlage, die an sich aber keineswegs die Natur war. Dem Plastiker, dem Maler, dem Dichter wird in seinem künstlerischen Gesetz die Natur erklärt; ohne inniges Ver¬ ständniß der Natur vermag er nichts Schönes zu schaffen. Dem Musiker werden die Gesetze der Harmonie, des Con¬ trapunktes erklärt; sein Erlerntes, ohne daß er kein musi¬ kalisches Gebäude aufführen kann, ist ein abstraktes, wissen¬ schaftliches System; durch erlangte Geschicklichkeit in seiner Anwendung wird er Zunftgenosse, und von diesem zunftge¬ nössischen Standpunkte aus sieht er nun in die Welt der Dinge hinein, die ihm nothwendig eine andere erscheinen muß, als dem unzunftgenössischen Weltkinde, -- dem Laien. Der uneingeweihte Laie steht nun verdutzt vor dem künstlichen Werke der Kunstmusik und vermag sehr richtig nichts anderes von ihm zu erfassen, als das allge¬ mein Herzanregende; dieß tritt ihm aus dem Wunderbaue aber nur in der unbedingt ohrgefälligen Melodie entgegen:
entſtellen. Die Tonkunſt, die nur an dem ſcheuen, aller Einbildungen, aller Täuſchungen fähigen Gehör ihr äußer¬ lich menſchliches Maß fand, mußte ſich abſtraktere Geſetze bilden, und dieſe Geſetze zu einem vollſtändigen wiſſen¬ ſchaftlichen Syſteme verbinden. Dieß Syſtem war die Ba¬ ſis der modernen Muſik: auf dieſes Syſtem wurde gebaut, auf ihm Thurm auf Thurm geſtellt, und je kühner der Bau, deſto unerläßlicher die feſte Grundlage, — dieſe Grundlage, die an ſich aber keineswegs die Natur war. Dem Plaſtiker, dem Maler, dem Dichter wird in ſeinem künſtleriſchen Geſetz die Natur erklärt; ohne inniges Ver¬ ſtändniß der Natur vermag er nichts Schönes zu ſchaffen. Dem Muſiker werden die Geſetze der Harmonie, des Con¬ trapunktes erklärt; ſein Erlerntes, ohne daß er kein muſi¬ kaliſches Gebäude aufführen kann, iſt ein abſtraktes, wiſſen¬ ſchaftliches Syſtem; durch erlangte Geſchicklichkeit in ſeiner Anwendung wird er Zunftgenoſſe, und von dieſem zunftge¬ nöſſiſchen Standpunkte aus ſieht er nun in die Welt der Dinge hinein, die ihm nothwendig eine andere erſcheinen muß, als dem unzunftgenöſſiſchen Weltkinde, — dem Laien. Der uneingeweihte Laie ſteht nun verdutzt vor dem künſtlichen Werke der Kunſtmuſik und vermag ſehr richtig nichts anderes von ihm zu erfaſſen, als das allge¬ mein Herzanregende; dieß tritt ihm aus dem Wunderbaue aber nur in der unbedingt ohrgefälligen Melodie entgegen:
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entſtellen. Die Tonkunſt, die nur an dem ſcheuen, aller
Einbildungen, aller Täuſchungen fähigen Gehör ihr äußer¬
lich menſchliches Maß fand, mußte ſich abſtraktere Geſetze
bilden, und dieſe Geſetze zu einem vollſtändigen wiſſen¬
ſchaftlichen Syſteme verbinden. Dieß Syſtem war die Ba¬
ſis der modernen Muſik: auf dieſes Syſtem wurde gebaut,
auf ihm Thurm auf Thurm geſtellt, und je kühner der
Bau, deſto unerläßlicher die feſte Grundlage, — dieſe
Grundlage, die an ſich aber keineswegs die Natur war.
Dem Plaſtiker, dem Maler, dem Dichter wird in ſeinem
künſtleriſchen Geſetz die Natur erklärt; ohne inniges Ver¬
ſtändniß der Natur vermag er nichts Schönes zu ſchaffen.
Dem Muſiker werden die Geſetze der Harmonie, des Con¬
trapunktes erklärt; ſein Erlerntes, ohne daß er kein muſi¬
kaliſches Gebäude aufführen kann, iſt ein abſtraktes, wiſſen¬
ſchaftliches Syſtem; durch erlangte Geſchicklichkeit in ſeiner
Anwendung wird er Zunftgenoſſe, und von dieſem zunftge¬
nöſſiſchen Standpunkte aus ſieht er nun in die Welt der
Dinge hinein, die ihm nothwendig eine andere erſcheinen
muß, als dem unzunftgenöſſiſchen Weltkinde, — dem
Laien. Der uneingeweihte Laie ſteht nun verdutzt vor
dem künſtlichen Werke der Kunſtmuſik und vermag ſehr
richtig nichts anderes von ihm zu erfaſſen, als das allge¬
mein Herzanregende; dieß tritt ihm aus dem Wunderbaue
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Wagner, Richard: Das Kunstwerk der Zukunft. Leipzig, 1850, S. 98. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wagner_zukunft_1850/114>, abgerufen am 27.07.2024.
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