fahrt Beethovens, -- diese einmalige, durchaus unwieder¬ holbare Thatsache, wie wir sie in seiner Freudensymphonie als letztes, kühnstes Wagniß seines Genius vollbracht er¬ kennen, -- in blödester Unbefangenheit nachträglich wieder angetreten und ohne Beschwerden glücklich überstanden worden ist. Ein neues Genre, eine "Symphonie mit Chören", -- weiter sah man darin nichts! Warum soll Der und Jener nicht auch eine Symphonie mit Chören schreiben können? Warum soll nicht "Gott der Herr" zum Schluß aus voller Kehle gelobt werden, nachdem er gehol¬ fen hat, drei vorangehende Instrumentalsätze so geschickt wie möglich zu Stande zu bringen? -- -- So hat Co¬ lumbus Amerika nur für den süßlichen Schacher unsrer Zeit entdeckt!
Der Grund dieser widerlichen Erscheinung liegt aber tief im Wesen unsrer modernen Musik selbst. Die von der Dicht- und Tanzkunst abgelöste Tonkunst ist keine den Menschen unwillkürlich nothwendige Kunst mehr. Sie hat sich selbst nach Gesetzen construiren müssen, die, ihrem eigenthümlichen Wesen entnommen, in keiner rein mensch¬ lichen Erscheinung ihr verwandtes, verdeutlichendes Maß finden. Jede der anderen Künste hielt sich an dem Maße der äußeren menschlichen Gestalt, des äußerlichen mensch¬ lichen Lebens, oder der Natur fest, mochte es dieß unbe¬ dingt Vorhandene und Gegebene auch noch so willkürlich
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fahrt Beethovens, — dieſe einmalige, durchaus unwieder¬ holbare Thatſache, wie wir ſie in ſeiner Freudenſymphonie als letztes, kühnſtes Wagniß ſeines Genius vollbracht er¬ kennen, — in blödeſter Unbefangenheit nachträglich wieder angetreten und ohne Beſchwerden glücklich überſtanden worden iſt. Ein neues Genre, eine „Symphonie mit Chören“, — weiter ſah man darin nichts! Warum ſoll Der und Jener nicht auch eine Symphonie mit Chören ſchreiben können? Warum ſoll nicht „Gott der Herr“ zum Schluß aus voller Kehle gelobt werden, nachdem er gehol¬ fen hat, drei vorangehende Inſtrumentalſätze ſo geſchickt wie möglich zu Stande zu bringen? — — So hat Co¬ lumbus Amerika nur für den ſüßlichen Schacher unſrer Zeit entdeckt!
Der Grund dieſer widerlichen Erſcheinung liegt aber tief im Weſen unſrer modernen Muſik ſelbſt. Die von der Dicht- und Tanzkunſt abgelöſte Tonkunſt iſt keine den Menſchen unwillkürlich nothwendige Kunſt mehr. Sie hat ſich ſelbſt nach Geſetzen conſtruiren müſſen, die, ihrem eigenthümlichen Weſen entnommen, in keiner rein menſch¬ lichen Erſcheinung ihr verwandtes, verdeutlichendes Maß finden. Jede der anderen Künſte hielt ſich an dem Maße der äußeren menſchlichen Geſtalt, des äußerlichen menſch¬ lichen Lebens, oder der Natur feſt, mochte es dieß unbe¬ dingt Vorhandene und Gegebene auch noch ſo willkürlich
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fahrt Beethovens, — dieſe einmalige, durchaus unwieder¬
holbare Thatſache, wie wir ſie in ſeiner Freudenſymphonie
als letztes, kühnſtes Wagniß ſeines Genius vollbracht er¬
kennen, — in blödeſter Unbefangenheit nachträglich wieder
angetreten und ohne Beſchwerden glücklich überſtanden
worden iſt. Ein neues Genre, eine „Symphonie mit
Chören“, — weiter ſah man darin nichts! Warum ſoll
Der und Jener nicht auch eine Symphonie mit Chören
ſchreiben können? Warum ſoll nicht „Gott der Herr“ zum
Schluß aus voller Kehle gelobt werden, nachdem er gehol¬
fen hat, drei vorangehende Inſtrumentalſätze ſo geſchickt
wie möglich zu Stande zu bringen? — — So hat Co¬
lumbus Amerika nur für den ſüßlichen Schacher unſrer
Zeit entdeckt!
Der Grund dieſer widerlichen Erſcheinung liegt aber
tief im Weſen unſrer modernen Muſik ſelbſt. Die von der
Dicht- und Tanzkunſt abgelöſte Tonkunſt iſt keine den
Menſchen unwillkürlich nothwendige Kunſt mehr. Sie hat
ſich ſelbſt nach Geſetzen conſtruiren müſſen, die, ihrem
eigenthümlichen Weſen entnommen, in keiner rein menſch¬
lichen Erſcheinung ihr verwandtes, verdeutlichendes Maß
finden. Jede der anderen Künſte hielt ſich an dem Maße
der äußeren menſchlichen Geſtalt, des äußerlichen menſch¬
lichen Lebens, oder der Natur feſt, mochte es dieß unbe¬
dingt Vorhandene und Gegebene auch noch ſo willkürlich
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Wagner, Richard: Das Kunstwerk der Zukunft. Leipzig, 1850, S. 97. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wagner_zukunft_1850/113>, abgerufen am 22.07.2024.
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