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Wagner, Richard: Das Kunstwerk der Zukunft. Leipzig, 1850.

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wie zu festen, menschlichen Gestalten, die bald mit riesigge¬
lenken Gliedern, bald mit elastisch zarter Geschmeidigkeit,
schlank und üppig fast vor unsren Augen den
Reigen schließen, zu dem bald lieblich, bald kühn, bald
ernst*), bald ausgelassen, bald sinnig, bald jauchzend, die
unsterbliche Weise fort und fort tönt, bis im letzten Wirbel
der Lust ein jubelnder Kuß die letzte Umarmung beschließt.

Und doch waren diese seligen Tänzer nur in Tönen
vorgestellte, in Tönen nachgeahmte Menschen! Wie ein
zweiter Prometheus, der aus Thon Menschen bildete, hatte
Beethoven aus Ton sie zu bilden gesucht. Nicht aus Thon
oder Ton, sondern aus beiden Massen zugleich sollte aber der
Mensch, das Ebenbild des Lebenspenders Zeus erschaffen sein.
Waren des Prometheus Bildungen nur dem Auge darge¬
stellt, so waren die Beethovens es nur dem Ohr: nur,

*) Zu dem feierlich daherschreitenden Rhythmus des zweiten
Satzes erhebt ein Nebenthema seinen klagend sehnsüchtigen Ge¬
sang; an jenem Rhythmus, der unablässig seinen sichren Schritt
durch das ganze Tonstück vernehmen läßt, schmiegt sich diese ver¬
langende Melodie, wie der Epheu um die Eiche, der, ohne diese
Umschlingung des mächtigen Stammes, in üppiger Verlorenheit
wirr und kraus am Boden sich hinwinden würde, nun aber, als
reicher Schmuck der rauhen Eichenrinde, an der kernigen Gestalt
des Baumes selbst sichere unverflossene Gestalt gewinnt. Wie ge¬
dankenlos ist diese tief bedeutsame Erfindung Beethovens von unsren
ewig "nebenthematisirenden", modernen Instrumentalcomponisten
ausgebeutet worden!

wie zu feſten, menſchlichen Geſtalten, die bald mit rieſigge¬
lenken Gliedern, bald mit elaſtiſch zarter Geſchmeidigkeit,
ſchlank und üppig faſt vor unſren Augen den
Reigen ſchließen, zu dem bald lieblich, bald kühn, bald
ernſt*), bald ausgelaſſen, bald ſinnig, bald jauchzend, die
unſterbliche Weiſe fort und fort tönt, bis im letzten Wirbel
der Luſt ein jubelnder Kuß die letzte Umarmung beſchließt.

Und doch waren dieſe ſeligen Tänzer nur in Tönen
vorgeſtellte, in Tönen nachgeahmte Menſchen! Wie ein
zweiter Prometheus, der aus Thon Menſchen bildete, hatte
Beethoven aus Ton ſie zu bilden geſucht. Nicht aus Thon
oder Ton, ſondern aus beiden Maſſen zugleich ſollte aber der
Menſch, das Ebenbild des Lebenſpenders Zeus erſchaffen ſein.
Waren des Prometheus Bildungen nur dem Auge darge¬
ſtellt, ſo waren die Beethovens es nur dem Ohr: nur,

*) Zu dem feierlich daherſchreitenden Rhythmus des zweiten
Satzes erhebt ein Nebenthema ſeinen klagend ſehnſüchtigen Ge¬
ſang; an jenem Rhythmus, der unabläſſig ſeinen ſichren Schritt
durch das ganze Tonſtück vernehmen läßt, ſchmiegt ſich dieſe ver¬
langende Melodie, wie der Epheu um die Eiche, der, ohne dieſe
Umſchlingung des mächtigen Stammes, in üppiger Verlorenheit
wirr und kraus am Boden ſich hinwinden würde, nun aber, als
reicher Schmuck der rauhen Eichenrinde, an der kernigen Geſtalt
des Baumes ſelbſt ſichere unverfloſſene Geſtalt gewinnt. Wie ge¬
dankenlos iſt dieſe tief bedeutſame Erfindung Beethovens von unſren
ewig „nebenthematiſirenden“, modernen Inſtrumentalcomponiſten
ausgebeutet worden!
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[91/0107] wie zu feſten, menſchlichen Geſtalten, die bald mit rieſigge¬ lenken Gliedern, bald mit elaſtiſch zarter Geſchmeidigkeit, ſchlank und üppig faſt vor unſren Augen den Reigen ſchließen, zu dem bald lieblich, bald kühn, bald ernſt *), bald ausgelaſſen, bald ſinnig, bald jauchzend, die unſterbliche Weiſe fort und fort tönt, bis im letzten Wirbel der Luſt ein jubelnder Kuß die letzte Umarmung beſchließt. Und doch waren dieſe ſeligen Tänzer nur in Tönen vorgeſtellte, in Tönen nachgeahmte Menſchen! Wie ein zweiter Prometheus, der aus Thon Menſchen bildete, hatte Beethoven aus Ton ſie zu bilden geſucht. Nicht aus Thon oder Ton, ſondern aus beiden Maſſen zugleich ſollte aber der Menſch, das Ebenbild des Lebenſpenders Zeus erſchaffen ſein. Waren des Prometheus Bildungen nur dem Auge darge¬ ſtellt, ſo waren die Beethovens es nur dem Ohr: nur, *) Zu dem feierlich daherſchreitenden Rhythmus des zweiten Satzes erhebt ein Nebenthema ſeinen klagend ſehnſüchtigen Ge¬ ſang; an jenem Rhythmus, der unabläſſig ſeinen ſichren Schritt durch das ganze Tonſtück vernehmen läßt, ſchmiegt ſich dieſe ver¬ langende Melodie, wie der Epheu um die Eiche, der, ohne dieſe Umſchlingung des mächtigen Stammes, in üppiger Verlorenheit wirr und kraus am Boden ſich hinwinden würde, nun aber, als reicher Schmuck der rauhen Eichenrinde, an der kernigen Geſtalt des Baumes ſelbſt ſichere unverfloſſene Geſtalt gewinnt. Wie ge¬ dankenlos iſt dieſe tief bedeutſame Erfindung Beethovens von unſren ewig „nebenthematiſirenden“, modernen Inſtrumentalcomponiſten ausgebeutet worden!

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Zitationshilfe: Wagner, Richard: Das Kunstwerk der Zukunft. Leipzig, 1850, S. 91. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wagner_zukunft_1850/107>, abgerufen am 25.11.2024.