als durch Aufgehen der Sehnsucht in einem Gegenstande. Dieser Gegenstand kann, dem Charakter unendlichen Seh¬ nens gemäß, aber nur ein endlich, sinnlich und sittlich genau sich darstellender sein. An einem solchen Gegenstande findet jedoch die absolute Musik ihre ganz bestimmten Gränzen; sie vermag, ohne die willkürlichsten Annahmen, nun und nimmermehr den sinnlich und sittlich bestimmten Menschen aus sich allein zur genau wahrnehmbaren, unter¬ scheidenden Darstellung zu bringen; sie ist, in ihrer unend¬ lichsten Steigerung, doch immer nur Gefühl; sie tritt im Geleite der sittlichen That, nicht aber als That selbst ein; sie kann Gefühle und Stimmungen neben einander stellen, nicht aber nach Nothwendigkeit eine Stimmung aus der andern entwickeln; -- ihr fehlt der moralische Wille.
Welche unnachahmliche Kunst wandte Beethoven in seiner C-moll-Symphonie nicht auf, um aus dem Ocean unendlichen Sehnens sein Schiff nach dem Hafen der Er¬ füllung hinzuleiten? Er vermochte es, den Ausdruck seiner Musik bis fast zum moralischen Entschlusse zu steigern, dennoch aber nicht ihn selbst auszusprechen; und nach jedem Ansatze zum Willen fühlen wir uns, ohne sittlichen Anhalt, von der Möglichkeit beängstigt, eben so gut, als zum Sieg, auch zum Rückfall in das Leiden geführt zu werden; -- ja dieser Rückfall muß uns fast nothwendiger als der moralisch
als durch Aufgehen der Sehnſucht in einem Gegenſtande. Dieſer Gegenſtand kann, dem Charakter unendlichen Seh¬ nens gemäß, aber nur ein endlich, ſinnlich und ſittlich genau ſich darſtellender ſein. An einem ſolchen Gegenſtande findet jedoch die abſolute Muſik ihre ganz beſtimmten Gränzen; ſie vermag, ohne die willkürlichſten Annahmen, nun und nimmermehr den ſinnlich und ſittlich beſtimmten Menſchen aus ſich allein zur genau wahrnehmbaren, unter¬ ſcheidenden Darſtellung zu bringen; ſie iſt, in ihrer unend¬ lichſten Steigerung, doch immer nur Gefühl; ſie tritt im Geleite der ſittlichen That, nicht aber als That ſelbſt ein; ſie kann Gefühle und Stimmungen neben einander ſtellen, nicht aber nach Nothwendigkeit eine Stimmung aus der andern entwickeln; — ihr fehlt der moraliſche Wille.
Welche unnachahmliche Kunſt wandte Beethoven in ſeiner C-moll-Symphonie nicht auf, um aus dem Ocean unendlichen Sehnens ſein Schiff nach dem Hafen der Er¬ füllung hinzuleiten? Er vermochte es, den Ausdruck ſeiner Muſik bis faſt zum moraliſchen Entſchluſſe zu ſteigern, dennoch aber nicht ihn ſelbſt auszuſprechen; und nach jedem Anſatze zum Willen fühlen wir uns, ohne ſittlichen Anhalt, von der Möglichkeit beängſtigt, eben ſo gut, als zum Sieg, auch zum Rückfall in das Leiden geführt zu werden; — ja dieſer Rückfall muß uns faſt nothwendiger als der moraliſch
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0104"n="88"/>
als durch Aufgehen der Sehnſucht in einem <hirendition="#g">Gegenſtande</hi>.<lb/>
Dieſer Gegenſtand kann, dem Charakter unendlichen Seh¬<lb/>
nens gemäß, aber nur ein endlich, ſinnlich und ſittlich genau<lb/>ſich darſtellender ſein. An einem ſolchen Gegenſtande<lb/>
findet jedoch die abſolute Muſik ihre ganz beſtimmten<lb/>
Gränzen; ſie vermag, ohne die willkürlichſten Annahmen,<lb/>
nun und nimmermehr den ſinnlich und ſittlich beſtimmten<lb/>
Menſchen aus ſich allein zur genau wahrnehmbaren, unter¬<lb/>ſcheidenden Darſtellung zu bringen; ſie iſt, in ihrer unend¬<lb/>
lichſten Steigerung, doch immer nur <hirendition="#g">Gefühl</hi>; ſie tritt im<lb/><hirendition="#g">Geleite</hi> der ſittlichen That, nicht aber als <hirendition="#g">That ſelbſt</hi><lb/>
ein; ſie kann Gefühle und Stimmungen neben einander<lb/>ſtellen, nicht aber nach Nothwendigkeit eine Stimmung<lb/>
aus der andern entwickeln; — ihr fehlt <hirendition="#g">der moraliſche<lb/>
Wille</hi>.</p><lb/><p>Welche unnachahmliche Kunſt wandte Beethoven in<lb/>ſeiner <hirendition="#aq">C</hi>-<hirendition="#aq">moll</hi>-Symphonie nicht auf, um aus dem Ocean<lb/>
unendlichen Sehnens ſein Schiff nach dem Hafen der Er¬<lb/>
füllung hinzuleiten? Er vermochte es, den Ausdruck ſeiner<lb/>
Muſik bis <hirendition="#g">faſt</hi> zum moraliſchen Entſchluſſe zu ſteigern,<lb/>
dennoch aber nicht ihn ſelbſt auszuſprechen; und nach jedem<lb/>
Anſatze zum Willen fühlen wir uns, ohne ſittlichen Anhalt,<lb/>
von der Möglichkeit beängſtigt, eben ſo gut, als zum Sieg,<lb/>
auch zum Rückfall in das Leiden geführt zu werden; — ja<lb/>
dieſer Rückfall muß uns faſt nothwendiger als der moraliſch<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[88/0104]
als durch Aufgehen der Sehnſucht in einem Gegenſtande.
Dieſer Gegenſtand kann, dem Charakter unendlichen Seh¬
nens gemäß, aber nur ein endlich, ſinnlich und ſittlich genau
ſich darſtellender ſein. An einem ſolchen Gegenſtande
findet jedoch die abſolute Muſik ihre ganz beſtimmten
Gränzen; ſie vermag, ohne die willkürlichſten Annahmen,
nun und nimmermehr den ſinnlich und ſittlich beſtimmten
Menſchen aus ſich allein zur genau wahrnehmbaren, unter¬
ſcheidenden Darſtellung zu bringen; ſie iſt, in ihrer unend¬
lichſten Steigerung, doch immer nur Gefühl; ſie tritt im
Geleite der ſittlichen That, nicht aber als That ſelbſt
ein; ſie kann Gefühle und Stimmungen neben einander
ſtellen, nicht aber nach Nothwendigkeit eine Stimmung
aus der andern entwickeln; — ihr fehlt der moraliſche
Wille.
Welche unnachahmliche Kunſt wandte Beethoven in
ſeiner C-moll-Symphonie nicht auf, um aus dem Ocean
unendlichen Sehnens ſein Schiff nach dem Hafen der Er¬
füllung hinzuleiten? Er vermochte es, den Ausdruck ſeiner
Muſik bis faſt zum moraliſchen Entſchluſſe zu ſteigern,
dennoch aber nicht ihn ſelbſt auszuſprechen; und nach jedem
Anſatze zum Willen fühlen wir uns, ohne ſittlichen Anhalt,
von der Möglichkeit beängſtigt, eben ſo gut, als zum Sieg,
auch zum Rückfall in das Leiden geführt zu werden; — ja
dieſer Rückfall muß uns faſt nothwendiger als der moraliſch
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Wagner, Richard: Das Kunstwerk der Zukunft. Leipzig, 1850, S. 88. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wagner_zukunft_1850/104>, abgerufen am 27.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.