Mechanismus: dieser löste ihn von seiner gehorsamen Er¬ gebenheit an seine Gebieterin, die leibliche Tanzkunst, und ließ ihn nun nach seinen Regeln Sprünge und Wendun¬ gen machen. In das lederne Riemenwerk dieses contra¬ punktisch geschulten Tanzes durfte aber nur der warme Athemhauch der natürlichen Volksweise dringen, so dehnte es sich alsbald zu dem elastischen Fleische menschlich schö¬ nen Kunstwerkes aus, und dieses Kunstwerk ist in seiner höchsten Vollendung die Symphonie Haydn's, Mo¬ zart's und Beethoven's.
In der Symphonie Haydn's bewegt sich die rhyth¬ mische Tanzmelodie mit heiterster jugendlicher Frische: ihre Verschlingungen, Zersetzungen und Wiedervereinigungen, wiewohl durch die höchste contrapunktische Geschicklichkeit ausgeführt, geben sich doch fast kaum mehr als Resultate solch geschickten Verfahrens, sondern vielmehr als dem Charakter eines, nach phantasiereichen Gesetzen geregelten, Tanzes eigenthümlich, kund: so warm durchdringt sie der Hauch wirklichen menschlich freudigen Lebens. Den, in mäßigerem Zeitmaße sich bewegenden Mittelsatz der Sym¬ phonie sehen wir von Haydn der schwellenden Ausbreitung der einfachen Volksgesangsweise angewiesen; sie dehnt sich in ihm nach Gesetzen des Melos', wie sie dem Wesen des Gesanges eigenthümlich sind, durch schwungvolle Steige¬ rung und, mit mannigfaltigem Ausdruck belebte, Wieder¬
Mechanismus: dieſer löſte ihn von ſeiner gehorſamen Er¬ gebenheit an ſeine Gebieterin, die leibliche Tanzkunſt, und ließ ihn nun nach ſeinen Regeln Sprünge und Wendun¬ gen machen. In das lederne Riemenwerk dieſes contra¬ punktiſch geſchulten Tanzes durfte aber nur der warme Athemhauch der natürlichen Volksweiſe dringen, ſo dehnte es ſich alsbald zu dem elaſtiſchen Fleiſche menſchlich ſchö¬ nen Kunſtwerkes aus, und dieſes Kunſtwerk iſt in ſeiner höchſten Vollendung die Symphonie Haydn's, Mo¬ zart's und Beethoven's.
In der Symphonie Haydn's bewegt ſich die rhyth¬ miſche Tanzmelodie mit heiterſter jugendlicher Friſche: ihre Verſchlingungen, Zerſetzungen und Wiedervereinigungen, wiewohl durch die höchſte contrapunktiſche Geſchicklichkeit ausgeführt, geben ſich doch faſt kaum mehr als Reſultate ſolch geſchickten Verfahrens, ſondern vielmehr als dem Charakter eines, nach phantaſiereichen Geſetzen geregelten, Tanzes eigenthümlich, kund: ſo warm durchdringt ſie der Hauch wirklichen menſchlich freudigen Lebens. Den, in mäßigerem Zeitmaße ſich bewegenden Mittelſatz der Sym¬ phonie ſehen wir von Haydn der ſchwellenden Ausbreitung der einfachen Volksgeſangsweiſe angewieſen; ſie dehnt ſich in ihm nach Geſetzen des Melos', wie ſie dem Weſen des Geſanges eigenthümlich ſind, durch ſchwungvolle Steige¬ rung und, mit mannigfaltigem Ausdruck belebte, Wieder¬
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Mechanismus: dieſer löſte ihn von ſeiner gehorſamen Er¬
gebenheit an ſeine Gebieterin, die leibliche Tanzkunſt, und
ließ ihn nun nach ſeinen Regeln Sprünge und Wendun¬
gen machen. In das lederne Riemenwerk dieſes contra¬
punktiſch geſchulten Tanzes durfte aber nur der warme
Athemhauch der natürlichen Volksweiſe dringen, ſo dehnte
es ſich alsbald zu dem elaſtiſchen Fleiſche menſchlich ſchö¬
nen Kunſtwerkes aus, und dieſes Kunſtwerk iſt in ſeiner
höchſten Vollendung die Symphonie Haydn's, Mo¬
zart's und Beethoven's.
In der Symphonie Haydn's bewegt ſich die rhyth¬
miſche Tanzmelodie mit heiterſter jugendlicher Friſche: ihre
Verſchlingungen, Zerſetzungen und Wiedervereinigungen,
wiewohl durch die höchſte contrapunktiſche Geſchicklichkeit
ausgeführt, geben ſich doch faſt kaum mehr als Reſultate
ſolch geſchickten Verfahrens, ſondern vielmehr als dem
Charakter eines, nach phantaſiereichen Geſetzen geregelten,
Tanzes eigenthümlich, kund: ſo warm durchdringt ſie der
Hauch wirklichen menſchlich freudigen Lebens. Den, in
mäßigerem Zeitmaße ſich bewegenden Mittelſatz der Sym¬
phonie ſehen wir von Haydn der ſchwellenden Ausbreitung
der einfachen Volksgeſangsweiſe angewieſen; ſie dehnt ſich
in ihm nach Geſetzen des Melos', wie ſie dem Weſen des
Geſanges eigenthümlich ſind, durch ſchwungvolle Steige¬
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Wagner, Richard: Das Kunstwerk der Zukunft. Leipzig, 1850, S. 84. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wagner_zukunft_1850/100>, abgerufen am 22.07.2024.
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