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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873

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macht. Schon Hesiod (fragm. 34) braucht von sich und Homer den pwa_072.002
Ausdruck Rapsantes aoiden, und bei Pindar (Nem. 2, 2) ist Rapton pwa_072.003
epeon aoidoi eine Umschreibung für Rapsodoi. Waren aber bereits pwa_072.004
die alten Aöden gewissermassen ein eigener Stand gewesen, so waren pwa_072.005
es die Rhapsoden natürlich noch vielmehr: jene verblieben in ihrem pwa_072.006
ganzen Wesen und Wirken mitten unter den Volksgenossen; diese stellten pwa_072.007
sich ihnen gegenüber. Eine solche Rhapsodenzunft war auf Chios pwa_072.008
das Geschlecht der Homeriden, nach welchen man bald auch die pwa_072.009
Rhapsoden andrer Inseln und andrer Länder, dann selbst die spätern pwa_072.010
epischen Dichter Homeriden nannte. Auch in Deutschland scheint es pwa_072.011
um das Jahr 1200 Leute nach Art der griechischen Rhapsoden gegeben pwa_072.012
zu haben, obschon sie da minder deutlich und gewiss nachzuweisen pwa_072.013
sind.

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Die Wirksamkeit der Rhapsoden ist aber nur eine vermittelnde, pwa_072.015
sie bereitet nur den weiteren Fortgang zu dem eigentlichen Ziele hin. pwa_072.016
Das stoffartige Interesse wächst nämlich je mehr und mehr; auch pwa_072.017
das schnellere Recitieren der Rhapsoden geht dem Volke wieder zu pwa_072.018
langsam und bietet ihm zu wenig auf einmal; daneben regt sich in pwa_072.019
einzelnen poetisch begabten Individuen das Verlangen nach freierer pwa_072.020
Selbstthätigkeit. Und noch ein folgenreicher Umstand kommt hinzu. pwa_072.021
Je länger die Mythen und Sagen über ein Volk hin und durch die pwa_072.022
Zeiten und Geschlechter gewandert sind, desto mehr treten sie unter pwa_072.023
sich in einen kreisartig abgeschlossenen Zusammenhang; gewisse Personen, pwa_072.024
gewisse Ereignisse erlangen ein Uebergewicht, meist darum, pwa_072.025
weil sich der Character und das historische Selbstbewusstsein des pwa_072.026
Volkes am deutlichsten in ihnen ausgesprochen und somit auch von pwa_072.027
ihnen vorzüglich angesprochen fühlt: was sich auf diese Hauptpunkte pwa_072.028
nicht beziehen lässt, fängt man an, weniger zu beachten; man sucht pwa_072.029
aber, womöglich alles auf sie zu beziehn. So erzählen die Lieder pwa_072.030
der Serben mit besonderer Vorliebe von dem in Tapferkeit und Frömmigkeit pwa_072.031
gleich rohen Königssohne Marco, der gegen das Jahr 1400 bei pwa_072.032
dem letzten kräftigen Ankämpfen der Serben gegen die türkische Herrschaft pwa_072.033
voranstand; so ist der Fuchs, der sich mit seiner Klugheit über pwa_072.034
die andre Thierwelt erhebt, als der Mensch unter den Thieren bald pwa_072.035
die Hauptperson der Thiersage geworden; so Artus, mit dem die pwa_072.036
britannische Geschichte endigt, und Karl, mit dem die französische pwa_072.037
beginnt, die tragenden Grundlagen jener des wälschen, dieser des pwa_072.038
französischen Sagenvorrathes; so der Cid, durch seine Kämpfe mit pwa_072.039
den Mauren berühmt, das Sinnbild der Treue und des Trotzes des pwa_072.040
spanischen Vasallenthums; so vor allen Siegfried in seinem Heldenmuthe, pwa_072.041
in seiner arglosen Gemüthlichkeit der Liebling der Deutschen;

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Die Wirksamkeit der Rhapsoden ist aber nur eine vermittelnde, pwa_072.015
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Das stoffartige Interesse wächst nämlich je mehr und mehr; auch pwa_072.017
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langsam und bietet ihm zu wenig auf einmal; daneben regt sich in pwa_072.019
einzelnen poetisch begabten Individuen das Verlangen nach freierer pwa_072.020
Selbstthätigkeit. Und noch ein folgenreicher Umstand kommt hinzu. pwa_072.021
Je länger die Mythen und Sagen über ein Volk hin und durch die pwa_072.022
Zeiten und Geschlechter gewandert sind, desto mehr treten sie unter pwa_072.023
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weil sich der Character und das historische Selbstbewusstsein des pwa_072.026
Volkes am deutlichsten in ihnen ausgesprochen und somit auch von pwa_072.027
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nicht beziehen lässt, fängt man an, weniger zu beachten; man sucht pwa_072.029
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Zitationshilfe: Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/90>, abgerufen am 22.11.2024.