Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_060.001 pwa_060.019 pwa_060.026 1 pwa_060.041
Vgl. Litt. Gesch. S. 41, 15. 141, 4. 142, 8. Hom. Hymn. 1, 172. pwa_060.001 pwa_060.019 pwa_060.026 1 pwa_060.041
Vgl. Litt. Gesch. S. 41, 15. 141, 4. 142, 8. Hom. Hymn. 1, 172. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0078" n="60"/><lb n="pwa_060.001"/> Sängerstand, eine Klasse von Leuten, die aus dem kunstmässigeren <lb n="pwa_060.002"/> Vortrage epischer Lieder gradezu ein Gewerbe machen: diese nun <lb n="pwa_060.003"/> ziehen unter dem Volke umher und weilen in den Häusern der <lb n="pwa_060.004"/> Könige und singen hier und dort, was zwar jeder Zuhörer bereits <lb n="pwa_060.005"/> kennt, weil es alt überliefert ist; sie werden aber doch lieber vernommen <lb n="pwa_060.006"/> als Andre, weil sie mehr und schöner zu singen wissen; sie <lb n="pwa_060.007"/> dichten wohl selber auch neue Lieder, indem sie die Sagen ihres <lb n="pwa_060.008"/> Volkes in Anschauung und Darstellung umgestalten, sind aber dabei <lb n="pwa_060.009"/> doch wieder nur als Organe des Volkes, als Mund und Wortführer <lb n="pwa_060.010"/> desselben zu betrachten. Solche Sänger von Gewerbe und Beruf (die <lb n="pwa_060.011"/> Gallier nannten sie Barden) haben noch heut zu Tage die Serben, in <lb n="pwa_060.012"/> Dingen der Poesie unter allen slawischen Völkern das am höchsten <lb n="pwa_060.013"/> gestellte: sie singen aber nur, was die Leute auch sonst schon kennen. <lb n="pwa_060.014"/> Eben solche begegnen uns bei den Griechen: Homer nennt sie <foreign xml:lang="grc">ἀοιδοί</foreign>, <lb n="pwa_060.015"/> Hesiodus (Theogon. 95) mit besonderer Rücksicht auf das Saitenspiel <lb n="pwa_060.016"/> <foreign xml:lang="grc">κιθαρισταί</foreign>; eben solche auch bei den Deutschen des Mittelalters: <lb n="pwa_060.017"/> gewöhnlich waren es Blinde<note xml:id="pwa_060_1" place="foot" n="1"><lb n="pwa_060.041"/> Vgl. Litt. Gesch. S. 41, 15. 141, 4. 142, 8. Hom. Hymn. 1, 172.</note>, wie jetzt bei den Serben, und wie auch <lb n="pwa_060.018"/> jener phäakische Demodokos blind ist (Od. 8, 64. Ovid. Ibis 274).</p> <p><lb n="pwa_060.019"/> Was aber auf solche Weise mitgetheilt wird, muss auch auf <lb n="pwa_060.020"/> solche Weise mittheilbar sein: es darf das epische Gedicht in keiner <lb n="pwa_060.021"/> Beziehung weder die physischen Kräfte des Sängers noch die geistigen <lb n="pwa_060.022"/> der Zuhörer übersteigen; der Sänger muss es auf einmal und <lb n="pwa_060.023"/> ohne Stockung vortragen, die Zuhörer müssen es dem Inhalte wie <lb n="pwa_060.024"/> der Form nach so fassen können, dass sie allenfalls in den Stand <lb n="pwa_060.025"/> gesetzt werden, es nun auch selber zu singen.</p> <p><lb n="pwa_060.026"/> Es ist also erstens die epische Anschauung nicht bloss, wie es <lb n="pwa_060.027"/> schon das allgemeine Princip der Schönheit fordert, durchaus einig, <lb n="pwa_060.028"/> sondern auch so einfach als möglich: der Sänger entfaltet vor seinen <lb n="pwa_060.029"/> Zuhörern kein langes, in die Weite und Breite ausgreifendes Gewebe <lb n="pwa_060.030"/> von Sagen oder Mythen, sondern er führt nur einen einzigen Mythus, <lb n="pwa_060.031"/> eine einzige Sage vor; die äussern Thatsachen bilden, wie sie nur <lb n="pwa_060.032"/> für Eine Idee die Form der Anschauung sind, auch nur Eine durch <lb n="pwa_060.033"/> Causalität eng in sich zusammenhangende und abgeschlossene Reihenfolge, <lb n="pwa_060.034"/> zielen nur auf Ein Hauptereigniss hin. Erzählte der Sänger mehr <lb n="pwa_060.035"/> als Ein Hauptereigniss, knüpfte er einen Kreis von Thatsachen an <lb n="pwa_060.036"/> den andern: er würde vielleicht, so lange sein Gesang dauerte, die <lb n="pwa_060.037"/> Zuhörer unterhalten; aber wenn er vorüber wäre, würden sie leer <lb n="pwa_060.038"/> und verwirrt von dannen gehn. Es sind auch nur Anschauungen von <lb n="pwa_060.039"/> jener engen Einheit und Einfachheit, die den Homerischen Sängern in <lb n="pwa_060.040"/> den Mund gelegt werden: dem Phemios die Sage von der Heimkehr </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [60/0078]
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Sängerstand, eine Klasse von Leuten, die aus dem kunstmässigeren pwa_060.002
Vortrage epischer Lieder gradezu ein Gewerbe machen: diese nun pwa_060.003
ziehen unter dem Volke umher und weilen in den Häusern der pwa_060.004
Könige und singen hier und dort, was zwar jeder Zuhörer bereits pwa_060.005
kennt, weil es alt überliefert ist; sie werden aber doch lieber vernommen pwa_060.006
als Andre, weil sie mehr und schöner zu singen wissen; sie pwa_060.007
dichten wohl selber auch neue Lieder, indem sie die Sagen ihres pwa_060.008
Volkes in Anschauung und Darstellung umgestalten, sind aber dabei pwa_060.009
doch wieder nur als Organe des Volkes, als Mund und Wortführer pwa_060.010
desselben zu betrachten. Solche Sänger von Gewerbe und Beruf (die pwa_060.011
Gallier nannten sie Barden) haben noch heut zu Tage die Serben, in pwa_060.012
Dingen der Poesie unter allen slawischen Völkern das am höchsten pwa_060.013
gestellte: sie singen aber nur, was die Leute auch sonst schon kennen. pwa_060.014
Eben solche begegnen uns bei den Griechen: Homer nennt sie ἀοιδοί, pwa_060.015
Hesiodus (Theogon. 95) mit besonderer Rücksicht auf das Saitenspiel pwa_060.016
κιθαρισταί; eben solche auch bei den Deutschen des Mittelalters: pwa_060.017
gewöhnlich waren es Blinde 1, wie jetzt bei den Serben, und wie auch pwa_060.018
jener phäakische Demodokos blind ist (Od. 8, 64. Ovid. Ibis 274).
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Was aber auf solche Weise mitgetheilt wird, muss auch auf pwa_060.020
solche Weise mittheilbar sein: es darf das epische Gedicht in keiner pwa_060.021
Beziehung weder die physischen Kräfte des Sängers noch die geistigen pwa_060.022
der Zuhörer übersteigen; der Sänger muss es auf einmal und pwa_060.023
ohne Stockung vortragen, die Zuhörer müssen es dem Inhalte wie pwa_060.024
der Form nach so fassen können, dass sie allenfalls in den Stand pwa_060.025
gesetzt werden, es nun auch selber zu singen.
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Es ist also erstens die epische Anschauung nicht bloss, wie es pwa_060.027
schon das allgemeine Princip der Schönheit fordert, durchaus einig, pwa_060.028
sondern auch so einfach als möglich: der Sänger entfaltet vor seinen pwa_060.029
Zuhörern kein langes, in die Weite und Breite ausgreifendes Gewebe pwa_060.030
von Sagen oder Mythen, sondern er führt nur einen einzigen Mythus, pwa_060.031
eine einzige Sage vor; die äussern Thatsachen bilden, wie sie nur pwa_060.032
für Eine Idee die Form der Anschauung sind, auch nur Eine durch pwa_060.033
Causalität eng in sich zusammenhangende und abgeschlossene Reihenfolge, pwa_060.034
zielen nur auf Ein Hauptereigniss hin. Erzählte der Sänger mehr pwa_060.035
als Ein Hauptereigniss, knüpfte er einen Kreis von Thatsachen an pwa_060.036
den andern: er würde vielleicht, so lange sein Gesang dauerte, die pwa_060.037
Zuhörer unterhalten; aber wenn er vorüber wäre, würden sie leer pwa_060.038
und verwirrt von dannen gehn. Es sind auch nur Anschauungen von pwa_060.039
jener engen Einheit und Einfachheit, die den Homerischen Sängern in pwa_060.040
den Mund gelegt werden: dem Phemios die Sage von der Heimkehr
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Vgl. Litt. Gesch. S. 41, 15. 141, 4. 142, 8. Hom. Hymn. 1, 172.
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