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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873

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durch dasselbe und in und mit ihm lebt. Erst nach und nach, wie pwa_046.002
die Sittigung anwächst, die zu einem künstlicheren Staatswesen in pwa_046.003
Wechselbeziehung steht, erwacht auch das ausschliessende Selbstbewusstsein pwa_046.004
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zu machen. In Zeiten wie diesen kann sich kein Epos zuerst pwa_046.006
entwickeln: denn das Epos verlangt, wie das weiterhin ausführlicher pwa_046.007
soll dargestellt werden, dass die Individualitat des Dichters aufgehe pwa_046.008
in die Gesammtheit des Volkes. Auf der andern Seite kann jener pwa_046.009
frühere Zustand ebensowenig die Grundlage abgeben für die Lyrik: pwa_046.010
die Lyrik hat es mit den Innerlichkeiten des Individuums zu thun: pwa_046.011
in jenen Zeiten weiss sich aber noch Keiner recht als solches. Auch pwa_046.012
pflegt der einfache Mensch unempfindlich zu sein gegen feinere Eindrücke pwa_046.013
auf sein Gefühl, und bei stärkeren so leidenschaftlich, dass pwa_046.014
er eher schreit als singt. Vielmehr, was sich mit jenem früheren pwa_046.015
natürlicheren Volksleben einzig verträgt, die unmittelbare und nothwendige pwa_046.016
Frucht desselben, ist die epische; was nur bei einem künstlicheren pwa_046.017
Staatsleben noch möglich ist und sich als dessen Ausdruck pwa_046.018
ergiebt, die lyrische Poesie.

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Endlich kommt hier noch ein vierter Punct in Anschlag. Seiner pwa_046.020
selbst ist sich also in jenem Urzustande der Einzelne wenig bewusst: pwa_046.021
wessen er sich aber und mit ihm alle Stammverwandten sich bewusst pwa_046.022
sind, und nicht bloss im Verstande, sondern von ganzer Seele bewusst pwa_046.023
sind, das ist die Abhängigkeit von Gott: in Allen wohnt das Gefühl pwa_046.024
und die Erfahrung, dass das ganze Volk, dass alle Menschheit, alle pwa_046.025
Welt aus Gott komme und nur durch ihn Bestand habe; was auch pwa_046.026
geschieht, sie erkennen, dass es durch Gott geschehe. Dieses Bewusstsein pwa_046.027
zugleich des göttlichen Ursprunges und der Abhängigkeit pwa_046.028
von Gott spricht sich überall selbst in den Mythen des Heidenthums pwa_046.029
aus, indem es z. B. Götter sind, welche die einzelnen Völker zu ihren pwa_046.030
Stammvätern und zu Ahnherrn ihrer Könige machen. Je weiter aber pwa_046.031
die Geschichte vorwärts rückt, desto mehr entfremdet sich auch die pwa_046.032
Menschheit ihrem höheren Ursprunge, desto mehr wendet sie das pwa_046.033
Auge von Gott zurück auf sich selbst; desto mehr verdunkelt sich in pwa_046.034
den Einzelnen das unbefangene Gefühl des unmittelbaren Zusammenhanges pwa_046.035
mit ihm, desto mehr glaubt Jeder für sich zu stehn und das pwa_046.036
Heil in sich selber zu finden. Auch in dieser Beziehung ist dort nur pwa_046.037
das Epos, und ist hier nur die Lyrik begründet: dort diejenige Gattung pwa_046.038
der Poesie, die Gott in der Geschichte anschaut; hier diejenige, pwa_046.039
die ihn ausserhalb der Geschichte, die ihn im Ich zu erkennen pwa_046.040
sucht, die sich oft genug sogar mit einem gottverlassenen Ich pwa_046.041
begnügen mag.

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durch dasselbe und in und mit ihm lebt. Erst nach und nach, wie pwa_046.002
die Sittigung anwächst, die zu einem künstlicheren Staatswesen in pwa_046.003
Wechselbeziehung steht, erwacht auch das ausschliessende Selbstbewusstsein pwa_046.004
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zu machen. In Zeiten wie diesen kann sich kein Epos zuerst pwa_046.006
entwickeln: denn das Epos verlangt, wie das weiterhin ausführlicher pwa_046.007
soll dargestellt werden, dass die Individualitat des Dichters aufgehe pwa_046.008
in die Gesammtheit des Volkes. Auf der andern Seite kann jener pwa_046.009
frühere Zustand ebensowenig die Grundlage abgeben für die Lyrik: pwa_046.010
die Lyrik hat es mit den Innerlichkeiten des Individuums zu thun: pwa_046.011
in jenen Zeiten weiss sich aber noch Keiner recht als solches. Auch pwa_046.012
pflegt der einfache Mensch unempfindlich zu sein gegen feinere Eindrücke pwa_046.013
auf sein Gefühl, und bei stärkeren so leidenschaftlich, dass pwa_046.014
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Frucht desselben, ist die epische; was nur bei einem künstlicheren pwa_046.017
Staatsleben noch möglich ist und sich als dessen Ausdruck pwa_046.018
ergiebt, die lyrische Poesie.

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Endlich kommt hier noch ein vierter Punct in Anschlag. Seiner pwa_046.020
selbst ist sich also in jenem Urzustande der Einzelne wenig bewusst: pwa_046.021
wessen er sich aber und mit ihm alle Stammverwandten sich bewusst pwa_046.022
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Welt aus Gott komme und nur durch ihn Bestand habe; was auch pwa_046.026
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zugleich des göttlichen Ursprunges und der Abhängigkeit pwa_046.028
von Gott spricht sich überall selbst in den Mythen des Heidenthums pwa_046.029
aus, indem es z. B. Götter sind, welche die einzelnen Völker zu ihren pwa_046.030
Stammvätern und zu Ahnherrn ihrer Könige machen. Je weiter aber pwa_046.031
die Geschichte vorwärts rückt, desto mehr entfremdet sich auch die pwa_046.032
Menschheit ihrem höheren Ursprunge, desto mehr wendet sie das pwa_046.033
Auge von Gott zurück auf sich selbst; desto mehr verdunkelt sich in pwa_046.034
den Einzelnen das unbefangene Gefühl des unmittelbaren Zusammenhanges pwa_046.035
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Heil in sich selber zu finden. Auch in dieser Beziehung ist dort nur pwa_046.037
das Epos, und ist hier nur die Lyrik begründet: dort diejenige Gattung pwa_046.038
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Zitationshilfe: Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 46. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/64>, abgerufen am 22.11.2024.