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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873

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Gefässe hin, Odin speit den Meth hinein, und von da an gehört pwa_038.002
dieser Meth den Asen und den Menschen, welche dichten können: pwa_038.003
vergl. Grimms Mythol. 855-857. Wie hier die ganze Poesie, so pwa_038.004
werden anderswo auch einzelne hauptsächliche Formen derselben, pwa_038.005
werden Versformen, die bestimmte Dichtungsarten bezeichnen und pwa_038.006
vertreten, auf Götter zurückgeführt oder doch ihr Ursprung in jene pwa_038.007
entlegenen Zeiten versetzt, da die Götter noch auf Erden wandelten. pwa_038.008
So soll der Hexameter von den Musen selbst erfunden sein: als pwa_038.009
Apollo den pythischen Drachen erlegte, da, erzählt ein später Scholiast, pwa_038.010
riefen ihm die Musen ermuthigende Worte, dann ihren Beifall pwa_038.011
zu: von selbst ordnete und gliederte sich ihr Ruf in rhythmischer pwa_038.012
Weise, und so sprachen und sangen sie die ersten Hexameter. In pwa_038.013
ähnlicher Weise hat auch der Trimeter, die Versform der Komödie pwa_038.014
und des Dramas überhaupt, einen mythischen Ursprung: denn er hat pwa_038.015
seinen Namen von der Jambe, einer Magd im königlichen Palast zu pwa_038.016
Eleusis, welche die Demeter, da diese in Betrübniss um ihre Tochter pwa_038.017
umherirrte, durch ihre lustigen Einfälle endlich wenigstens zum Lächeln pwa_038.018
brachte: vgl. Ruhnken zum homerischen Hymnus auf Demeter 195.

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Tiefsinniger sind einige morgenländische Sagen, welche gleichfalls pwa_038.020
das hohe Alter und den göttlichen Ursprung der Poesie behaupten, pwa_038.021
aber nicht, indem sie dieselbe von einer Gottheit oder mit Zuthun pwa_038.022
der Götter, sondern von dem Menschen, aber unter Umständen erfinden pwa_038.023
lassen, wo er sich seiner überirdischen göttlichen Natur musste pwa_038.024
am tiefsten und innigsten bewusst werden. Nach den Arabern ist der pwa_038.025
erste Dichter Adam selbst gewesen (vgl. Latifi's Nachrichten von türkischen pwa_038.026
Dichtern, von Th. Chabert S. 6): er sang aber das erste Lied, pwa_038.027
als ihn der erste Schmerz der Sterblichkeit ergriff, als er Abel erschlagen pwa_038.028
sah: denn in diesem tiefsten Leide musste er erkennen, wie über pwa_038.029
dem armen sterblichen Leben noch ein höheres sei, es musste in pwa_038.030
ihm das Bewusstsein der göttlichen Natur von neuem erwachen und pwa_038.031
mit ihm die Poesie, der Ausfluss der göttlichen Natur. Ferner verdient pwa_038.032
hier Erwähnung eine Art von Trauergesang, der schon zu den pwa_038.033
ältesten Formen der griechischen Poesie gehört, den aber die Griechen pwa_038.034
nicht für sich allein, sondern gemein mit den Aegyptern und pwa_038.035
den Völkern Vorderasiens und wahrscheinlich von daher empfangen pwa_038.036
haben; er heisst Linos, und diess ist zugleich der Name eines sagenhaft pwa_038.037
ältesten Dichters, des Sohns Apollos und einer Muse, der zuerst pwa_038.038
solche Trauerlieder gesungen und damit überhaupt den dichterischen pwa_038.039
Gesang und den dichterischen Rhythmus soll erfunden haben. An pwa_038.040
vielen Orten wurde Linos gefeiert: vgl. Ambrosch de Lino (Berlin 1829). pwa_038.041
Auch die Inder stellen den ersten epischen Vers, der gesprochen

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Gefässe hin, Ođin speit den Meth hinein, und von da an gehört pwa_038.002
dieser Meth den Asen und den Menschen, welche dichten können: pwa_038.003
vergl. Grimms Mythol. 855–857. Wie hier die ganze Poesie, so pwa_038.004
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vertreten, auf Götter zurückgeführt oder doch ihr Ursprung in jene pwa_038.007
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So soll der Hexameter von den Musen selbst erfunden sein: als pwa_038.009
Apollo den pythischen Drachen erlegte, da, erzählt ein später Scholiast, pwa_038.010
riefen ihm die Musen ermuthigende Worte, dann ihren Beifall pwa_038.011
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Weise, und so sprachen und sangen sie die ersten Hexameter. In pwa_038.013
ähnlicher Weise hat auch der Trimeter, die Versform der Komödie pwa_038.014
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Eleusis, welche die Demeter, da diese in Betrübniss um ihre Tochter pwa_038.017
umherirrte, durch ihre lustigen Einfälle endlich wenigstens zum Lächeln pwa_038.018
brachte: vgl. Ruhnken zum homerischen Hymnus auf Demeter 195.

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Tiefsinniger sind einige morgenländische Sagen, welche gleichfalls pwa_038.020
das hohe Alter und den göttlichen Ursprung der Poesie behaupten, pwa_038.021
aber nicht, indem sie dieselbe von einer Gottheit oder mit Zuthun pwa_038.022
der Götter, sondern von dem Menschen, aber unter Umständen erfinden pwa_038.023
lassen, wo er sich seiner überirdischen göttlichen Natur musste pwa_038.024
am tiefsten und innigsten bewusst werden. Nach den Arabern ist der pwa_038.025
erste Dichter Adam selbst gewesen (vgl. Latifi's Nachrichten von türkischen pwa_038.026
Dichtern, von Th. Chabert S. 6): er sang aber das erste Lied, pwa_038.027
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mit ihm die Poesie, der Ausfluss der göttlichen Natur. Ferner verdient pwa_038.032
hier Erwähnung eine Art von Trauergesang, der schon zu den pwa_038.033
ältesten Formen der griechischen Poesie gehört, den aber die Griechen pwa_038.034
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[38/0056] pwa_038.001 Gefässe hin, Ođin speit den Meth hinein, und von da an gehört pwa_038.002 dieser Meth den Asen und den Menschen, welche dichten können: pwa_038.003 vergl. Grimms Mythol. 855–857. Wie hier die ganze Poesie, so pwa_038.004 werden anderswo auch einzelne hauptsächliche Formen derselben, pwa_038.005 werden Versformen, die bestimmte Dichtungsarten bezeichnen und pwa_038.006 vertreten, auf Götter zurückgeführt oder doch ihr Ursprung in jene pwa_038.007 entlegenen Zeiten versetzt, da die Götter noch auf Erden wandelten. pwa_038.008 So soll der Hexameter von den Musen selbst erfunden sein: als pwa_038.009 Apollo den pythischen Drachen erlegte, da, erzählt ein später Scholiast, pwa_038.010 riefen ihm die Musen ermuthigende Worte, dann ihren Beifall pwa_038.011 zu: von selbst ordnete und gliederte sich ihr Ruf in rhythmischer pwa_038.012 Weise, und so sprachen und sangen sie die ersten Hexameter. In pwa_038.013 ähnlicher Weise hat auch der Trimeter, die Versform der Komödie pwa_038.014 und des Dramas überhaupt, einen mythischen Ursprung: denn er hat pwa_038.015 seinen Namen von der Jambe, einer Magd im königlichen Palast zu pwa_038.016 Eleusis, welche die Demeter, da diese in Betrübniss um ihre Tochter pwa_038.017 umherirrte, durch ihre lustigen Einfälle endlich wenigstens zum Lächeln pwa_038.018 brachte: vgl. Ruhnken zum homerischen Hymnus auf Demeter 195. pwa_038.019 Tiefsinniger sind einige morgenländische Sagen, welche gleichfalls pwa_038.020 das hohe Alter und den göttlichen Ursprung der Poesie behaupten, pwa_038.021 aber nicht, indem sie dieselbe von einer Gottheit oder mit Zuthun pwa_038.022 der Götter, sondern von dem Menschen, aber unter Umständen erfinden pwa_038.023 lassen, wo er sich seiner überirdischen göttlichen Natur musste pwa_038.024 am tiefsten und innigsten bewusst werden. Nach den Arabern ist der pwa_038.025 erste Dichter Adam selbst gewesen (vgl. Latifi's Nachrichten von türkischen pwa_038.026 Dichtern, von Th. Chabert S. 6): er sang aber das erste Lied, pwa_038.027 als ihn der erste Schmerz der Sterblichkeit ergriff, als er Abel erschlagen pwa_038.028 sah: denn in diesem tiefsten Leide musste er erkennen, wie über pwa_038.029 dem armen sterblichen Leben noch ein höheres sei, es musste in pwa_038.030 ihm das Bewusstsein der göttlichen Natur von neuem erwachen und pwa_038.031 mit ihm die Poesie, der Ausfluss der göttlichen Natur. Ferner verdient pwa_038.032 hier Erwähnung eine Art von Trauergesang, der schon zu den pwa_038.033 ältesten Formen der griechischen Poesie gehört, den aber die Griechen pwa_038.034 nicht für sich allein, sondern gemein mit den Aegyptern und pwa_038.035 den Völkern Vorderasiens und wahrscheinlich von daher empfangen pwa_038.036 haben; er heisst Linos, und diess ist zugleich der Name eines sagenhaft pwa_038.037 ältesten Dichters, des Sohns Apollos und einer Muse, der zuerst pwa_038.038 solche Trauerlieder gesungen und damit überhaupt den dichterischen pwa_038.039 Gesang und den dichterischen Rhythmus soll erfunden haben. An pwa_038.040 vielen Orten wurde Linos gefeiert: vgl. Ambrosch de Lino (Berlin 1829). pwa_038.041 Auch die Inder stellen den ersten epischen Vers, der gesprochen

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Zitationshilfe: Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 38. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/56>, abgerufen am 22.11.2024.