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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873

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Alterthum überlieferte Namen; der alte Gesammtname ist Repetitio. pwa_425.002
Man hat sie aber zuerst in zwei Classen einzutheilen. Entweder kehrt pwa_425.003
ganz dasselbe Wort wieder in derselben Bedeutung und in derselben pwa_425.004
grammatischen Form, oder dasselbe Wort, aber in verschiedenen grammatischen pwa_425.005
Formen und somit auch in mehr oder weniger verschiedener pwa_425.006
Bedeutung. Dann sind innerhalb dieser zwei Gattungen wieder vielfache pwa_425.007
besondere Arten zu unterscheiden. Die Arten der ersten Gattung, pwa_425.008
wo dasselbe Wort ohne Veränderung der Bedeutung und der pwa_425.009
Form wiederkehrt, sind mit den griechischen Namen die Anaphora, pwa_425.010
die Epiphora, die Epanalepsis, die Epanodos, die Epizeuxis und die pwa_425.011
Symploke.

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Anaphora, anaphora, Zurückführung, nennt man die Wiederkehr pwa_425.013
desselben Wortes, derselben Wendung am Anfange mehrerer auf einander pwa_425.014
folgender Sätze oder Satzglieder. Beispiele aus der altdeutschen Poesie: pwa_425.015
Walther von der Vogelweide (LB. 14, 407; Wack. Ausg. S. 77), ein pwa_425.016
Lied, wo am Anfang jeder Strophe das Wort owe wiederkehrt. Sodann pwa_425.017
Gottfried von Neifen (LB. 14, 679): "Roter munt, nu lache, daß mir pwa_425.018
sorge swinde; roter munt, nu lache, daß mir sendeß leit zerge! Lachen pwa_425.019
du mir mache, daß ich froeide vinde; roter munt, nu lache, daß mein pwa_425.020
herze fro beste!" In einem Spruche auf die Unfreigebigkeit König pwa_425.021
Rudolfs wiederholt Meister Stolle am Anfange jedes Verses die Worte: pwa_425.022
"Ern geit ouch niht" (LB. 14, 751). So nun auch in der neueren Poesie, pwa_425.023
z. B. gleich in den ersten Versen von Schillers Elegie Der Spaziergang: pwa_425.024
"Sei mir gegrüsst, mein Berg, mit dem röthlich stralenden pwa_425.025
Gipfel! Sei mir, Sonne, gegrüsst, die ihn so lieblich bescheint!" pwa_425.026
(LB. 2, 1145). Reich an Anaphern ist ferner auch Göthes Ballade pwa_425.027
Der Fischer (LB. 2, 1033). Die Anapher verbindet sich gern mit der pwa_425.028
Gradation, wie z. B. bei Martial (Epigr. 8, 14): "Dat populus, dat pwa_425.029
gratus eques, dat tura senatus." Im Zeitalter der silbernen Latinität pwa_425.030
findet sich die Anapher auch in Prosa nicht selten, und in Verbindung pwa_425.031
mit der Gradation bildet sie eine von den Eigenthümlichkeiten des pwa_425.032
Taciteischen Stiles; z. B. Germania 7: "Et in proximo pignora, unde pwa_425.033
feminarum ululatus audiri, unde vagitus infantium. hi cuique sanctissimi pwa_425.034
testes, hi maximi laudatores. ad matres, ad coniuges vulnera pwa_425.035
ferunt."

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Epiphora, epiphora, Zugabe, heisst die Wiederkehr desselben pwa_425.037
Wortes, derselben Wendung zum Schluss eines Satzes oder Satzgliedes: pwa_425.038
sie ist mithin das reine Gegentheil der Anapher. Z. B. Ovid (Metamorph. pwa_425.039
1, 361): "Namque ego, crede mihi, si te modo pontus haberet, Te pwa_425.040
sequerer, coniux, et me quoque pontus haberet." Schiller, Don Carlos pwa_425.041
(1. Act, 2. Auftr.): "Ich sah auf dich und weinte nicht. Der Schmerz

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Alterthum überlieferte Namen; der alte Gesammtname ist Repetitio. pwa_425.002
Man hat sie aber zuerst in zwei Classen einzutheilen. Entweder kehrt pwa_425.003
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besondere Arten zu unterscheiden. Die Arten der ersten Gattung, pwa_425.008
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Form wiederkehrt, sind mit den griechischen Namen die Anaphora, pwa_425.010
die Epiphora, die Epanalepsis, die Epanodos, die Epizeuxis und die pwa_425.011
Symploke.

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Anaphora, ἀναφορά, Zurückführung, nennt man die Wiederkehr pwa_425.013
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Walther von der Vogelweide (LB. 14, 407; Wack. Ausg. S. 77), ein pwa_425.016
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Gottfried von Neifen (LB. 14, 679): „Rôter munt, nu lache, daʒ mir pwa_425.018
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Rudolfs wiederholt Meister Stolle am Anfange jedes Verses die Worte: pwa_425.022
„Ern gît ouch niht“ (LB. 14, 751). So nun auch in der neueren Poesie, pwa_425.023
z. B. gleich in den ersten Versen von Schillers Elegie Der Spaziergang: pwa_425.024
„Sei mir gegrüsst, mein Berg, mit dem röthlich stralenden pwa_425.025
Gipfel! Sei mir, Sonne, gegrüsst, die ihn so lieblich bescheint!“ pwa_425.026
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Taciteischen Stiles; z. B. Germania 7: „Et in proximo pignora, unde pwa_425.033
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Epiphora, ἐπιφορά, Zugabe, heisst die Wiederkehr desselben pwa_425.037
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[425/0443] pwa_425.001 Alterthum überlieferte Namen; der alte Gesammtname ist Repetitio. pwa_425.002 Man hat sie aber zuerst in zwei Classen einzutheilen. Entweder kehrt pwa_425.003 ganz dasselbe Wort wieder in derselben Bedeutung und in derselben pwa_425.004 grammatischen Form, oder dasselbe Wort, aber in verschiedenen grammatischen pwa_425.005 Formen und somit auch in mehr oder weniger verschiedener pwa_425.006 Bedeutung. Dann sind innerhalb dieser zwei Gattungen wieder vielfache pwa_425.007 besondere Arten zu unterscheiden. Die Arten der ersten Gattung, pwa_425.008 wo dasselbe Wort ohne Veränderung der Bedeutung und der pwa_425.009 Form wiederkehrt, sind mit den griechischen Namen die Anaphora, pwa_425.010 die Epiphora, die Epanalepsis, die Epanodos, die Epizeuxis und die pwa_425.011 Symploke. pwa_425.012 Anaphora, ἀναφορά, Zurückführung, nennt man die Wiederkehr pwa_425.013 desselben Wortes, derselben Wendung am Anfange mehrerer auf einander pwa_425.014 folgender Sätze oder Satzglieder. Beispiele aus der altdeutschen Poesie: pwa_425.015 Walther von der Vogelweide (LB. 14, 407; Wack. Ausg. S. 77), ein pwa_425.016 Lied, wo am Anfang jeder Strophe das Wort owê wiederkehrt. Sodann pwa_425.017 Gottfried von Neifen (LB. 14, 679): „Rôter munt, nu lache, daʒ mir pwa_425.018 sorge swinde; rôter munt, nu lache, daʒ mir sendeʒ leit zergê! Lachen pwa_425.019 du mir mache, daʒ ich frœide vinde; rôter munt, nu lache, daʒ mîn pwa_425.020 herze frô bestê!“ In einem Spruche auf die Unfreigebigkeit König pwa_425.021 Rudolfs wiederholt Meister Stolle am Anfange jedes Verses die Worte: pwa_425.022 „Ern gît ouch niht“ (LB. 14, 751). So nun auch in der neueren Poesie, pwa_425.023 z. B. gleich in den ersten Versen von Schillers Elegie Der Spaziergang: pwa_425.024 „Sei mir gegrüsst, mein Berg, mit dem röthlich stralenden pwa_425.025 Gipfel! Sei mir, Sonne, gegrüsst, die ihn so lieblich bescheint!“ pwa_425.026 (LB. 2, 1145). Reich an Anaphern ist ferner auch Göthes Ballade pwa_425.027 Der Fischer (LB. 2, 1033). Die Anapher verbindet sich gern mit der pwa_425.028 Gradation, wie z. B. bei Martial (Epigr. 8, 14): „Dat populus, dat pwa_425.029 gratus eques, dat tura senatus.“ Im Zeitalter der silbernen Latinität pwa_425.030 findet sich die Anapher auch in Prosa nicht selten, und in Verbindung pwa_425.031 mit der Gradation bildet sie eine von den Eigenthümlichkeiten des pwa_425.032 Taciteischen Stiles; z. B. Germania 7: „Et in proximo pignora, unde pwa_425.033 feminarum ululatus audiri, unde vagitus infantium. hi cuique sanctissimi pwa_425.034 testes, hi maximi laudatores. ad matres, ad coniuges vulnera pwa_425.035 ferunt.“ pwa_425.036 Epiphora, ἐπιφορά, Zugabe, heisst die Wiederkehr desselben pwa_425.037 Wortes, derselben Wendung zum Schluss eines Satzes oder Satzgliedes: pwa_425.038 sie ist mithin das reine Gegentheil der Anapher. Z. B. Ovid (Metamorph. pwa_425.039 1, 361): „Namque ego, crede mihi, si te modo pontus haberet, Te pwa_425.040 sequerer, coniux, et me quoque pontus haberet.“ Schiller, Don Carlos pwa_425.041 (1. Act, 2. Auftr.): „Ich sah auf dich und weinte nicht. Der Schmerz

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Zitationshilfe: Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 425. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/443>, abgerufen am 25.11.2024.