Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_417.001 pwa_417.004 pwa_417.006 pwa_417.029 pwa_417.001 pwa_417.004 pwa_417.006 pwa_417.029 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0435" n="417"/><lb n="pwa_417.001"/> Sal. 30, 18: „Drei Dinge sind mir zu wunderlich, und das vierte weiss <lb n="pwa_417.002"/> ich nicht;“ 30, 21: „Ein Land wird durch dreierlei unruhig, und das <lb n="pwa_417.003"/> vierte mag es nicht ertragen.“</p> <p><lb n="pwa_417.004"/> Endlich sind noch als Mittel des Hemmens und des Festhaltens auf <lb n="pwa_417.005"/> einem Puncte zu betrachten die <hi rendition="#b">Inversionen</hi> und die <hi rendition="#b">Hysterologie.</hi></p> <p><lb n="pwa_417.006"/><hi rendition="#b">Inversion</hi> nennt man eine Umstellung, wodurch die Worte in eine <lb n="pwa_417.007"/> andere Ordnung gebracht werden, als die gewöhnliche Regel fordert. <lb n="pwa_417.008"/> Die gewöhnliche Wortstellung stimmt, wenigstens und namentlich im <lb n="pwa_417.009"/> Deutschen, so überein mit dem natürlichen Fortschritt in der Entwickelung <lb n="pwa_417.010"/> der Vorstellungen, dass eben darum überall, wo man von ihr <lb n="pwa_417.011"/> abweicht, auch dieser Fortschritt vorübergehend ins Stocken geräth. <lb n="pwa_417.012"/> Nach der gewöhnlichen Weise des Denkens und Sprechens beginnt <lb n="pwa_417.013"/> der Satz mit dem Subject, dann folgt das Verb und dann das Object, <lb n="pwa_417.014"/> z. B.: „Ich preise den Herrn;“ erst also der Ausgangspunct der Thätigkeit, <lb n="pwa_417.015"/> dann die Thätigkeit selbst, dann der Punct, in welchem sie ihr <lb n="pwa_417.016"/> Ziel findet. Bringt man nun durch eine Inversion diess Object, um <lb n="pwa_417.017"/> es auszuzeichnen, an die Spitze des Satzes und sagt: „Den Herrn <lb n="pwa_417.018"/> preis' ich,“ so ist damit das Ende zum Anfang gemacht, und der <lb n="pwa_417.019"/> Gedanke, statt nun noch vorwärts zu schreiten, wandelt eher in sich <lb n="pwa_417.020"/> selbst zurück. Und wie hier, so überall. Es kommt aber von allen <lb n="pwa_417.021"/> Hemmungsmitteln keins so häufig vor, als eben dieses, als die Inversion; <lb n="pwa_417.022"/> namentlich in dem neueren Stil der Lyrik und der Tragödie, <lb n="pwa_417.023"/> wie er durch Schiller ist in Uebung gebracht worden. Früherhin <lb n="pwa_417.024"/> waren die Inversionen weitaus seltener, sie hatten deshalb auch in <lb n="pwa_417.025"/> jedem einzelnen Fall, wo sie in Anwendung kamen, eine weit nachdrücklichere <lb n="pwa_417.026"/> Wirkung: in der neueren Zeit ist es beinahe schwer, <lb n="pwa_417.027"/> noch einen Satz, selbst bei Prosaisten, aufzufinden, der nicht invertiert <lb n="pwa_417.028"/> sei.</p> <p><lb n="pwa_417.029"/> Während die Inversion unmittelbar in das Gebiet der Grammatik, <lb n="pwa_417.030"/> nur mittelbar in das der Logik gehört, steht die <hi rendition="#b">Hysterologie</hi> oder <lb n="pwa_417.031"/> das <hi rendition="#b">Hysteron proteron</hi> (<foreign xml:lang="grc">ὕστερον πρότερον</foreign>) unmittelbar und zuvörderst <lb n="pwa_417.032"/> in Widerspruch mit der Logik. Die Inversion verändert die gewöhnliche <lb n="pwa_417.033"/> sprachliche Gestaltung des Gedankens, wie sie allerdings auch logisch <lb n="pwa_417.034"/> begründet ist; die Hysterologie kehrt die Zeitfolge und die Causalfolge <lb n="pwa_417.035"/> der einzelnen Gedankenglieder selbst um, wie sie sonst auch im Sprechen <lb n="pwa_417.036"/> beobachtet wird: sie stellt die anfangenden und bewirkenden Vorstellungen <lb n="pwa_417.037"/> ans Ende und macht das Spätere zum Früheren. Bei Homer <lb n="pwa_417.038"/> lassen sich wirkliche Hysterologien nicht mit Sicherheit nachweisen; <lb n="pwa_417.039"/> dafür aber hat Virgil davon oft mit Bewusstsein Gebrauch gemacht, <lb n="pwa_417.040"/> z. B. Georg. 1, 456: „Non illa quisquam me nocte per altum Ire, neque <lb n="pwa_417.041"/> ab terra moneat convellere funem“ (das Hinausfahren folgt eigentlich </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [417/0435]
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Sal. 30, 18: „Drei Dinge sind mir zu wunderlich, und das vierte weiss pwa_417.002
ich nicht;“ 30, 21: „Ein Land wird durch dreierlei unruhig, und das pwa_417.003
vierte mag es nicht ertragen.“
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Endlich sind noch als Mittel des Hemmens und des Festhaltens auf pwa_417.005
einem Puncte zu betrachten die Inversionen und die Hysterologie.
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Inversion nennt man eine Umstellung, wodurch die Worte in eine pwa_417.007
andere Ordnung gebracht werden, als die gewöhnliche Regel fordert. pwa_417.008
Die gewöhnliche Wortstellung stimmt, wenigstens und namentlich im pwa_417.009
Deutschen, so überein mit dem natürlichen Fortschritt in der Entwickelung pwa_417.010
der Vorstellungen, dass eben darum überall, wo man von ihr pwa_417.011
abweicht, auch dieser Fortschritt vorübergehend ins Stocken geräth. pwa_417.012
Nach der gewöhnlichen Weise des Denkens und Sprechens beginnt pwa_417.013
der Satz mit dem Subject, dann folgt das Verb und dann das Object, pwa_417.014
z. B.: „Ich preise den Herrn;“ erst also der Ausgangspunct der Thätigkeit, pwa_417.015
dann die Thätigkeit selbst, dann der Punct, in welchem sie ihr pwa_417.016
Ziel findet. Bringt man nun durch eine Inversion diess Object, um pwa_417.017
es auszuzeichnen, an die Spitze des Satzes und sagt: „Den Herrn pwa_417.018
preis' ich,“ so ist damit das Ende zum Anfang gemacht, und der pwa_417.019
Gedanke, statt nun noch vorwärts zu schreiten, wandelt eher in sich pwa_417.020
selbst zurück. Und wie hier, so überall. Es kommt aber von allen pwa_417.021
Hemmungsmitteln keins so häufig vor, als eben dieses, als die Inversion; pwa_417.022
namentlich in dem neueren Stil der Lyrik und der Tragödie, pwa_417.023
wie er durch Schiller ist in Uebung gebracht worden. Früherhin pwa_417.024
waren die Inversionen weitaus seltener, sie hatten deshalb auch in pwa_417.025
jedem einzelnen Fall, wo sie in Anwendung kamen, eine weit nachdrücklichere pwa_417.026
Wirkung: in der neueren Zeit ist es beinahe schwer, pwa_417.027
noch einen Satz, selbst bei Prosaisten, aufzufinden, der nicht invertiert pwa_417.028
sei.
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Während die Inversion unmittelbar in das Gebiet der Grammatik, pwa_417.030
nur mittelbar in das der Logik gehört, steht die Hysterologie oder pwa_417.031
das Hysteron proteron (ὕστερον πρότερον) unmittelbar und zuvörderst pwa_417.032
in Widerspruch mit der Logik. Die Inversion verändert die gewöhnliche pwa_417.033
sprachliche Gestaltung des Gedankens, wie sie allerdings auch logisch pwa_417.034
begründet ist; die Hysterologie kehrt die Zeitfolge und die Causalfolge pwa_417.035
der einzelnen Gedankenglieder selbst um, wie sie sonst auch im Sprechen pwa_417.036
beobachtet wird: sie stellt die anfangenden und bewirkenden Vorstellungen pwa_417.037
ans Ende und macht das Spätere zum Früheren. Bei Homer pwa_417.038
lassen sich wirkliche Hysterologien nicht mit Sicherheit nachweisen; pwa_417.039
dafür aber hat Virgil davon oft mit Bewusstsein Gebrauch gemacht, pwa_417.040
z. B. Georg. 1, 456: „Non illa quisquam me nocte per altum Ire, neque pwa_417.041
ab terra moneat convellere funem“ (das Hinausfahren folgt eigentlich
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