Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_416.001 pwa_416.008 pwa_416.001 pwa_416.008 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0434" n="416"/><lb n="pwa_416.001"/> S. 27 fgg.). Jetzt ist die Tautologie ziemlich veraltet; die <lb n="pwa_416.002"/> Dichter pflegen sich ihrer zu enthalten, und die Rechtssprache sowie <lb n="pwa_416.003"/> der Canzleistil wissen auch nur noch hin und wieder davon. In einem <lb n="pwa_416.004"/> Lustspiele von Holberg, Die Wochenstube betitelt, findet sich ein ergötzliches <lb n="pwa_416.005"/> Beispiel, wie dieser feierliche Canzleistil zuweilen auch in den <lb n="pwa_416.006"/> Mund gewöhnlicher Leute und in die Alltagssprache gerieth (Andere <lb n="pwa_416.007"/> Handlung, 7. und 8. Auftritt).</p> <p><lb n="pwa_416.008"/> Die Tautologie verharrt bei dem gleichen <hi rendition="#i">Begriffe;</hi> wenn es ein <lb n="pwa_416.009"/> ganzer <hi rendition="#i">Gedanke</hi> ist, den diese zweimalige Darstellung in verschiedener <lb n="pwa_416.010"/> Form getroffen hat, so heisst es <hi rendition="#b">Parallelismus:</hi> der Parallelismus ist <lb n="pwa_416.011"/> eine Tautologie der Gedanken. Er ist bekanntlich ein wesentliches <lb n="pwa_416.012"/> Stück in der Technik der hebräischen Poesie; vgl. Psalm 24: „Die <lb n="pwa_416.013"/> Erde ist des Herrn, und was darinnen ist; der Erdboden, und was <lb n="pwa_416.014"/> darauf wohnet. Denn er hat ihn an die Meere gegründet und an den <lb n="pwa_416.015"/> Wassern gegründet. Wer wird auf des Herrn Berg gehen? und wer <lb n="pwa_416.016"/> wird stehen an seiner heiligen Stätte?“ u. s. f. 1. Mos. 49, 6. 7. 11. 13. <lb n="pwa_416.017"/> 15. 17. 26; 4. Mos. 23, 19: „Gott ist nicht ein Mensch, dass er lüge, <lb n="pwa_416.018"/> noch ein Menschenkind, dass ihn etwas gereue. Sollte er etwas sagen <lb n="pwa_416.019"/> und nicht thun? Sollte er etwas reden und nicht halten?“ Aber auch <lb n="pwa_416.020"/> der Dichtkunst des Abendlandes ist der Parallelismus nicht fremd. Es <lb n="pwa_416.021"/> wird hier also der gleiche Gedanke dicht neben einander zweimal <lb n="pwa_416.022"/> ausgesprochen, nur in verschiedener Art der Auffassung und des Ausdruckes: <lb n="pwa_416.023"/> das gleiche Verfahren liegt aber auch dem Epigramm (S. 138), <lb n="pwa_416.024"/> einer Dichtart also auch des Abendlandes zu Grunde, das ja für gewöhnlich <lb n="pwa_416.025"/> auch nichts weiter ist als ein zweimaliger Ausdruck der gleichen <lb n="pwa_416.026"/> Vorstellung, nur zuerst in bildlicher, dann in unbildlicher Auffassung, <lb n="pwa_416.027"/> zuerst episch, dann lyrisch oder didactisch, während der orientalische <lb n="pwa_416.028"/> Parallelismus beide Glieder bildlich oder beide unbildlich zu gestalten <lb n="pwa_416.029"/> pflegt. Man kann jedoch nur denjenigen orientalischen Parallelismus <lb n="pwa_416.030"/> mit dem Epigramm zusammenstellen, wo die beiden Glieder wirklich <lb n="pwa_416.031"/> das Gleiche aussagen, nur den tautologischen, im eigentlichen und <lb n="pwa_416.032"/> engeren Sinne sogenannten Parallelismus, nicht aber den Parallelismus <lb n="pwa_416.033"/> der Antithese, der Ungleiches mit Ungleichem zusammenbringt, und <lb n="pwa_416.034"/> bei dem auch das Parallele nur in Einzelheiten der äusserlichen Ausdrucksweise <lb n="pwa_416.035"/> beruht. Beiderlei Parallelismen nehmen vorzugsweise den <lb n="pwa_416.036"/> Scharfsinn und den Witz in Anspruch, sie wenden sich also an den <lb n="pwa_416.037"/> Verstand und haben didactischen Character. Eine Eigenheit der Spruchdichtung <lb n="pwa_416.038"/> der Hebräer ist es, den tautologischen Parallelismus zu verbinden <lb n="pwa_416.039"/> mit einer Theilung und Zählung. So im Hiob 5, 19: „Aus <lb n="pwa_416.040"/> sechs Trübsalen wird er dich erretten, und in der siebenten wird <lb n="pwa_416.041"/> dich kein Uebel rühren,“ vgl. Sprüche Sal. 6, 16 (Tautologie). Sprüche </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [416/0434]
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S. 27 fgg.). Jetzt ist die Tautologie ziemlich veraltet; die pwa_416.002
Dichter pflegen sich ihrer zu enthalten, und die Rechtssprache sowie pwa_416.003
der Canzleistil wissen auch nur noch hin und wieder davon. In einem pwa_416.004
Lustspiele von Holberg, Die Wochenstube betitelt, findet sich ein ergötzliches pwa_416.005
Beispiel, wie dieser feierliche Canzleistil zuweilen auch in den pwa_416.006
Mund gewöhnlicher Leute und in die Alltagssprache gerieth (Andere pwa_416.007
Handlung, 7. und 8. Auftritt).
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Die Tautologie verharrt bei dem gleichen Begriffe; wenn es ein pwa_416.009
ganzer Gedanke ist, den diese zweimalige Darstellung in verschiedener pwa_416.010
Form getroffen hat, so heisst es Parallelismus: der Parallelismus ist pwa_416.011
eine Tautologie der Gedanken. Er ist bekanntlich ein wesentliches pwa_416.012
Stück in der Technik der hebräischen Poesie; vgl. Psalm 24: „Die pwa_416.013
Erde ist des Herrn, und was darinnen ist; der Erdboden, und was pwa_416.014
darauf wohnet. Denn er hat ihn an die Meere gegründet und an den pwa_416.015
Wassern gegründet. Wer wird auf des Herrn Berg gehen? und wer pwa_416.016
wird stehen an seiner heiligen Stätte?“ u. s. f. 1. Mos. 49, 6. 7. 11. 13. pwa_416.017
15. 17. 26; 4. Mos. 23, 19: „Gott ist nicht ein Mensch, dass er lüge, pwa_416.018
noch ein Menschenkind, dass ihn etwas gereue. Sollte er etwas sagen pwa_416.019
und nicht thun? Sollte er etwas reden und nicht halten?“ Aber auch pwa_416.020
der Dichtkunst des Abendlandes ist der Parallelismus nicht fremd. Es pwa_416.021
wird hier also der gleiche Gedanke dicht neben einander zweimal pwa_416.022
ausgesprochen, nur in verschiedener Art der Auffassung und des Ausdruckes: pwa_416.023
das gleiche Verfahren liegt aber auch dem Epigramm (S. 138), pwa_416.024
einer Dichtart also auch des Abendlandes zu Grunde, das ja für gewöhnlich pwa_416.025
auch nichts weiter ist als ein zweimaliger Ausdruck der gleichen pwa_416.026
Vorstellung, nur zuerst in bildlicher, dann in unbildlicher Auffassung, pwa_416.027
zuerst episch, dann lyrisch oder didactisch, während der orientalische pwa_416.028
Parallelismus beide Glieder bildlich oder beide unbildlich zu gestalten pwa_416.029
pflegt. Man kann jedoch nur denjenigen orientalischen Parallelismus pwa_416.030
mit dem Epigramm zusammenstellen, wo die beiden Glieder wirklich pwa_416.031
das Gleiche aussagen, nur den tautologischen, im eigentlichen und pwa_416.032
engeren Sinne sogenannten Parallelismus, nicht aber den Parallelismus pwa_416.033
der Antithese, der Ungleiches mit Ungleichem zusammenbringt, und pwa_416.034
bei dem auch das Parallele nur in Einzelheiten der äusserlichen Ausdrucksweise pwa_416.035
beruht. Beiderlei Parallelismen nehmen vorzugsweise den pwa_416.036
Scharfsinn und den Witz in Anspruch, sie wenden sich also an den pwa_416.037
Verstand und haben didactischen Character. Eine Eigenheit der Spruchdichtung pwa_416.038
der Hebräer ist es, den tautologischen Parallelismus zu verbinden pwa_416.039
mit einer Theilung und Zählung. So im Hiob 5, 19: „Aus pwa_416.040
sechs Trübsalen wird er dich erretten, und in der siebenten wird pwa_416.041
dich kein Uebel rühren,“ vgl. Sprüche Sal. 6, 16 (Tautologie). Sprüche
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