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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873

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wieder Tausend; sie stürmten, sie riefen, Standen, weinten, erstaunten, pwa_410.002
verfluchten, segneten." Wären hier Bindewörter gebraucht, so würden pwa_410.003
alle diese gleichzeitigen Vorstellungen mehr ruhig neben einander pwa_410.004
liegen; da keine vorhanden sind, so wird das Ruhende in Bewegung pwa_410.005
gebracht und aus dem Nebeneinander wird ein bewegtes Nacheinander. pwa_410.006
Schon der älteren deutschen Poesie waren solche Asyndeta zu eben pwa_410.007
diesem Zwecke ganz geläufig. Auch da liebte man es, wie in den pwa_410.008
alten Sprachen, eine Aufzählung von coordinierten Begriffen durch die pwa_410.009
Unverbundenheit zu beleben. So bei Walther von der Vogelweide pwa_410.010
(LB. 14, 401. 15, 579): "Zungen, ougen, oren sint dicke schalchaft, pwa_410.011
zeren blint," und in Wolframs Titurel (LB. 14, 453. 15, 633): "La pwa_410.012
wider claren dein ougen, wange, kinne." Noch schöner ist eine pwa_410.013
andere Stelle im Titurel (Str. 103): "Si liuhtec bluome auf heide, in pwa_410.014
walde, auf velde!" Hier führt der Fortschritt des Asyndetons eine pwa_410.015
gewisse landschaftliche Anschaulichkeit mit sich, die ohne das nicht pwa_410.016
wohl vorhanden wäre.

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Das deutsche Asyndeton ist der Regel nach zum mindesten pwa_410.018
dreigliedrig; zweigliedrige sind Ausnahmen: so bei Freidank 149, 9: pwa_410.019
"Silber golt ist fremede mir;" 154, 15: "Stelen rouben naht unt tac;" pwa_410.020
165, 20 fgg.: "Liegen triegen ist ein site, dem vil der werlte volget mite. pwa_410.021
liegen triegen dicke gat mit fürsten an des reiches rat." In den antiken pwa_410.022
Sprachen ist das Asyndeton schon bei zwei Begriffen zulässig pwa_410.023
und häufig. Classische Beispiele: Suet. Caes. 37. Cic. 2. Catil. 1.

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Ganz gewöhnlich verbindet sich mit dem Asyndeton die Gradation pwa_410.025
oder mit griechischem Namen die Climax (e klimax), die steigernde pwa_410.026
Anordnung der einzelnen Begriffe. Schon das Asyndeton belebte den pwa_410.027
Fortschritt, die Steigerung belebt und bewegt ihn noch mehr. Die pwa_410.028
gewöhnliche Unterscheidung zwischen aufsteigender und absteigender pwa_410.029
Climax, zwischen Climax und Anticlimax ist falsch, sobald man sich pwa_410.030
bei der Anticlimax den letzten Begriff als den schwächsten in der pwa_410.031
Reihenfolge denkt. Er ist immer der stärkste derselben, und wenn er pwa_410.032
auch sonst an sich vielleicht schwächer sein mag als der erste, in pwa_410.033
diesem Zusammenhange immer der am höchsten stehende. Z. B.: pwa_410.034
"Wenn wir gross sind, so sind wir es überall, auf dem Thron, im pwa_410.035
Palaste, in der Hütte." Das nennt man eine Anticlimax; die Hütte pwa_410.036
steht freilich sonst unter dem Palaste, hier aber darüber, da Grösse pwa_410.037
in der Hütte seltener und minder erwartet ist als auf dem Throne pwa_410.038
und im Palast. Diese Gradation vereinigt sich, wie gesagt, mit dem pwa_410.039
Asyndeton; sie kommt auch sonst vor, aber sie ist hier, wo eine Ausdrucksweise pwa_410.040
die andere trägt und hebt, am besten angebracht und pwa_410.041
am wirksamsten.

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wieder Tausend; sie stürmten, sie riefen, Standen, weinten, erstaunten, pwa_410.002
verfluchten, segneten.“ Wären hier Bindewörter gebraucht, so würden pwa_410.003
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liegen; da keine vorhanden sind, so wird das Ruhende in Bewegung pwa_410.005
gebracht und aus dem Nebeneinander wird ein bewegtes Nacheinander. pwa_410.006
Schon der älteren deutschen Poesie waren solche Asyndeta zu eben pwa_410.007
diesem Zwecke ganz geläufig. Auch da liebte man es, wie in den pwa_410.008
alten Sprachen, eine Aufzählung von coordinierten Begriffen durch die pwa_410.009
Unverbundenheit zu beleben. So bei Walther von der Vogelweide pwa_410.010
(LB. 14, 401. 15, 579): „Zungen, ougen, ôren sint dicke schalchaft, pwa_410.011
zêren blint,“ und in Wolframs Titurel (LB. 14, 453. 15, 633): „Lâ pwa_410.012
wider clâren dîn ougen, wange, kinne.“ Noch schöner ist eine pwa_410.013
andere Stelle im Titurel (Str. 103): „Si liuhtec bluome ûf heide, in pwa_410.014
walde, ûf velde!“ Hier führt der Fortschritt des Asyndetons eine pwa_410.015
gewisse landschaftliche Anschaulichkeit mit sich, die ohne das nicht pwa_410.016
wohl vorhanden wäre.

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Das deutsche Asyndeton ist der Regel nach zum mindesten pwa_410.018
dreigliedrig; zweigliedrige sind Ausnahmen: so bei Freidank 149, 9: pwa_410.019
„Silber golt ist fremede mir;“ 154, 15: „Stelen rouben naht unt tac;“ pwa_410.020
165, 20 fgg.: „Liegen triegen ist ein site, dem vil der werlte volget mite. pwa_410.021
liegen triegen dicke gât mit fürsten an des rîches rât.“ In den antiken pwa_410.022
Sprachen ist das Asyndeton schon bei zwei Begriffen zulässig pwa_410.023
und häufig. Classische Beispiele: Suet. Caes. 37. Cic. 2. Catil. 1.

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Ganz gewöhnlich verbindet sich mit dem Asyndeton die Gradation pwa_410.025
oder mit griechischem Namen die Climax (ἡ κλίμαξ), die steigernde pwa_410.026
Anordnung der einzelnen Begriffe. Schon das Asyndeton belebte den pwa_410.027
Fortschritt, die Steigerung belebt und bewegt ihn noch mehr. Die pwa_410.028
gewöhnliche Unterscheidung zwischen aufsteigender und absteigender pwa_410.029
Climax, zwischen Climax und Anticlimax ist falsch, sobald man sich pwa_410.030
bei der Anticlimax den letzten Begriff als den schwächsten in der pwa_410.031
Reihenfolge denkt. Er ist immer der stärkste derselben, und wenn er pwa_410.032
auch sonst an sich vielleicht schwächer sein mag als der erste, in pwa_410.033
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„Wenn wir gross sind, so sind wir es überall, auf dem Thron, im pwa_410.035
Palaste, in der Hütte.“ Das nennt man eine Anticlimax; die Hütte pwa_410.036
steht freilich sonst unter dem Palaste, hier aber darüber, da Grösse pwa_410.037
in der Hütte seltener und minder erwartet ist als auf dem Throne pwa_410.038
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Asyndeton; sie kommt auch sonst vor, aber sie ist hier, wo eine Ausdrucksweise pwa_410.040
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[410/0428] pwa_410.001 wieder Tausend; sie stürmten, sie riefen, Standen, weinten, erstaunten, pwa_410.002 verfluchten, segneten.“ Wären hier Bindewörter gebraucht, so würden pwa_410.003 alle diese gleichzeitigen Vorstellungen mehr ruhig neben einander pwa_410.004 liegen; da keine vorhanden sind, so wird das Ruhende in Bewegung pwa_410.005 gebracht und aus dem Nebeneinander wird ein bewegtes Nacheinander. pwa_410.006 Schon der älteren deutschen Poesie waren solche Asyndeta zu eben pwa_410.007 diesem Zwecke ganz geläufig. Auch da liebte man es, wie in den pwa_410.008 alten Sprachen, eine Aufzählung von coordinierten Begriffen durch die pwa_410.009 Unverbundenheit zu beleben. So bei Walther von der Vogelweide pwa_410.010 (LB. 14, 401. 15, 579): „Zungen, ougen, ôren sint dicke schalchaft, pwa_410.011 zêren blint,“ und in Wolframs Titurel (LB. 14, 453. 15, 633): „Lâ pwa_410.012 wider clâren dîn ougen, wange, kinne.“ Noch schöner ist eine pwa_410.013 andere Stelle im Titurel (Str. 103): „Si liuhtec bluome ûf heide, in pwa_410.014 walde, ûf velde!“ Hier führt der Fortschritt des Asyndetons eine pwa_410.015 gewisse landschaftliche Anschaulichkeit mit sich, die ohne das nicht pwa_410.016 wohl vorhanden wäre. pwa_410.017 Das deutsche Asyndeton ist der Regel nach zum mindesten pwa_410.018 dreigliedrig; zweigliedrige sind Ausnahmen: so bei Freidank 149, 9: pwa_410.019 „Silber golt ist fremede mir;“ 154, 15: „Stelen rouben naht unt tac;“ pwa_410.020 165, 20 fgg.: „Liegen triegen ist ein site, dem vil der werlte volget mite. pwa_410.021 liegen triegen dicke gât mit fürsten an des rîches rât.“ In den antiken pwa_410.022 Sprachen ist das Asyndeton schon bei zwei Begriffen zulässig pwa_410.023 und häufig. Classische Beispiele: Suet. Caes. 37. Cic. 2. Catil. 1. pwa_410.024 Ganz gewöhnlich verbindet sich mit dem Asyndeton die Gradation pwa_410.025 oder mit griechischem Namen die Climax (ἡ κλίμαξ), die steigernde pwa_410.026 Anordnung der einzelnen Begriffe. Schon das Asyndeton belebte den pwa_410.027 Fortschritt, die Steigerung belebt und bewegt ihn noch mehr. Die pwa_410.028 gewöhnliche Unterscheidung zwischen aufsteigender und absteigender pwa_410.029 Climax, zwischen Climax und Anticlimax ist falsch, sobald man sich pwa_410.030 bei der Anticlimax den letzten Begriff als den schwächsten in der pwa_410.031 Reihenfolge denkt. Er ist immer der stärkste derselben, und wenn er pwa_410.032 auch sonst an sich vielleicht schwächer sein mag als der erste, in pwa_410.033 diesem Zusammenhange immer der am höchsten stehende. Z. B.: pwa_410.034 „Wenn wir gross sind, so sind wir es überall, auf dem Thron, im pwa_410.035 Palaste, in der Hütte.“ Das nennt man eine Anticlimax; die Hütte pwa_410.036 steht freilich sonst unter dem Palaste, hier aber darüber, da Grösse pwa_410.037 in der Hütte seltener und minder erwartet ist als auf dem Throne pwa_410.038 und im Palast. Diese Gradation vereinigt sich, wie gesagt, mit dem pwa_410.039 Asyndeton; sie kommt auch sonst vor, aber sie ist hier, wo eine Ausdrucksweise pwa_410.040 die andere trägt und hebt, am besten angebracht und pwa_410.041 am wirksamsten.

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Zitationshilfe: Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 410. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/428>, abgerufen am 25.11.2024.