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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873

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Lied an die Freude zu erwähnen. Eine Apostrophe ist auch die pwa_400.002
Invocation, die gelegentliche Anrufung einer Gottheit, wie die bei pwa_400.003
den epischen Dichtern auch noch der neueren Zeit beliebte Anrufung pwa_400.004
der Muse.

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Bei der Apostrophe wird das Abwesende vergegenwärtigt. Noch pwa_400.006
eine andere Wendung erzielt auch durch Vergegenwärtigung die Sinnlichkeit, pwa_400.007
aber durch Vergegenwärtigung des Vergangenen: es ist das pwa_400.008
die Erzählung im Praesens, das sogenannte Praesens historicum. Es pwa_400.009
giebt Mundarten, die immer nur im Praesens erzählen; davon haben pwa_400.010
wir hier nicht zu reden; hier kommt das Praesens in Betracht, sofern pwa_400.011
es neben der sonst gebräuchlichen und gebräuchlicheren Form des pwa_400.012
Praeteritums und statt derselben angewendet wird. Da geschieht es pwa_400.013
denn immer nur, um die Anschaulichkeit zu erhöhen, um das Vergangene pwa_400.014
wie gegenwärtig vor die Augen zu führen, so dass eigentlich pwa_400.015
nicht mehr erzählt, sondern geschildert wird. Wenn man darin Mass pwa_400.016
hält, wenn nicht zu oft, wenn nur dann, wo die sinnliche Vergegenwärtigung pwa_400.017
von Werth und Wichtigkeit ist, davon Gebrauch gemacht pwa_400.018
wird, so ist die Wirkung vortrefflich. Freilich halten nur wenige pwa_400.019
Mass, und in diesen Fehler verfallen natürlich am häufigsten und pwa_400.020
leichtesten Schriftsteller solcher Provinzen, deren Mundart das Praesens pwa_400.021
historicum überall anwendet. Auch darin wird oft gefehlt, dass pwa_400.022
innerhalb eines und desselben Gedankens Praesens und Praeteritum pwa_400.023
wechseln, d. h. die angeschaute Vorstellung hin und her geschoben pwa_400.024
wird, aus der Vergangenheit in die Gegenwart und wieder aus der pwa_400.025
Gegenwart in die Vergangenheit; dass aus der Erzählung in die Schilderung pwa_400.026
und aus dieser wieder in die Erzählung übergegangen wird, pwa_400.027
wie diess z. B. in Schillers Taucher der Fall ist (LB. 2, 1169, 33 fgg.). pwa_400.028
Ein Anderes ist es, wenn der Wechsel der Tempora mit einem neuen pwa_400.029
Gedanken, mit einer plötzlich hereinbrechenden neuen Thatsache zusammenhängt: pwa_400.030
hier ist dann keine solche Unruhe und Einheitlosigkeit vorhanden, pwa_400.031
sondern vermehrte Anschaulichkeit. So z. B. in Göthes Fischer pwa_400.032
(LB. 2, 1033, 11): hier tritt das Praesens erst mit dem neuen Gedanken pwa_400.033
ein, mit diesem einen überraschend plötzlichen, bedeutungsvollen pwa_400.034
Factum.

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Neben das Praesens historicum stellt sich im Lateinischen noch pwa_400.036
der sogenannte Infinitivus historicus: denn auch er tritt ein, wo vergangene pwa_400.037
Dinge nicht als hinter einander vergangen, sondern gleichsam pwa_400.038
als neben einander bestehend aufgefasst, wo sie nicht erzählt, sondern pwa_400.039
geschildert werden sollen. Und für diese Zwecke ist auch der Infinitivus pwa_400.040
ein ganz passliches Mittel, und ein noch passlicheres als das pwa_400.041
Praesens: denn er bezeichnet wohl eine Thätigkeit des Subjectes, und

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Lied an die Freude zu erwähnen. Eine Apostrophe ist auch die pwa_400.002
Invocation, die gelegentliche Anrufung einer Gottheit, wie die bei pwa_400.003
den epischen Dichtern auch noch der neueren Zeit beliebte Anrufung pwa_400.004
der Muse.

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Bei der Apostrophe wird das Abwesende vergegenwärtigt. Noch pwa_400.006
eine andere Wendung erzielt auch durch Vergegenwärtigung die Sinnlichkeit, pwa_400.007
aber durch Vergegenwärtigung des Vergangenen: es ist das pwa_400.008
die Erzählung im Praesens, das sogenannte Praesens historicum. Es pwa_400.009
giebt Mundarten, die immer nur im Praesens erzählen; davon haben pwa_400.010
wir hier nicht zu reden; hier kommt das Praesens in Betracht, sofern pwa_400.011
es neben der sonst gebräuchlichen und gebräuchlicheren Form des pwa_400.012
Praeteritums und statt derselben angewendet wird. Da geschieht es pwa_400.013
denn immer nur, um die Anschaulichkeit zu erhöhen, um das Vergangene pwa_400.014
wie gegenwärtig vor die Augen zu führen, so dass eigentlich pwa_400.015
nicht mehr erzählt, sondern geschildert wird. Wenn man darin Mass pwa_400.016
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von Werth und Wichtigkeit ist, davon Gebrauch gemacht pwa_400.018
wird, so ist die Wirkung vortrefflich. Freilich halten nur wenige pwa_400.019
Mass, und in diesen Fehler verfallen natürlich am häufigsten und pwa_400.020
leichtesten Schriftsteller solcher Provinzen, deren Mundart das Praesens pwa_400.021
historicum überall anwendet. Auch darin wird oft gefehlt, dass pwa_400.022
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wechseln, d. h. die angeschaute Vorstellung hin und her geschoben pwa_400.024
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Gegenwart in die Vergangenheit; dass aus der Erzählung in die Schilderung pwa_400.026
und aus dieser wieder in die Erzählung übergegangen wird, pwa_400.027
wie diess z. B. in Schillers Taucher der Fall ist (LB. 2, 1169, 33 fgg.). pwa_400.028
Ein Anderes ist es, wenn der Wechsel der Tempora mit einem neuen pwa_400.029
Gedanken, mit einer plötzlich hereinbrechenden neuen Thatsache zusammenhängt: pwa_400.030
hier ist dann keine solche Unruhe und Einheitlosigkeit vorhanden, pwa_400.031
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(LB. 2, 1033, 11): hier tritt das Praesens erst mit dem neuen Gedanken pwa_400.033
ein, mit diesem einen überraschend plötzlichen, bedeutungsvollen pwa_400.034
Factum.

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Neben das Praesens historicum stellt sich im Lateinischen noch pwa_400.036
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Dinge nicht als hinter einander vergangen, sondern gleichsam pwa_400.038
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Zitationshilfe: Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 400. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/418>, abgerufen am 22.11.2024.