Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_399.001 pwa_399.003 pwa_399.025 pwa_399.001 pwa_399.003 pwa_399.025 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0417" n="399"/><lb n="pwa_399.001"/> besteht die Allegorie nur dadurch, dass sie zugleich eine Personification <lb n="pwa_399.002"/> ist.</p> <p><lb n="pwa_399.003"/> Auf dem Gipfel aber der möglichen Ausbildung zeigt sich die <lb n="pwa_399.004"/> personificierende Allegorie dann, wenn mit der Personification eines <lb n="pwa_399.005"/> abstracten Begriffes noch die Namengebung verbunden ist, die Beilegung <lb n="pwa_399.006"/> eines bezeichnenden persönlichen Eigennamens; wenn man z. B. <lb n="pwa_399.007"/> nicht den Neid, die Selbstsucht ohne Weiteres als Person auffasst, <lb n="pwa_399.008"/> sondern an ihre Stelle einen Herrn Neidhart, einen Herrn Selphart <lb n="pwa_399.009"/> setzt. Hier haben wir die vollste Personificierung. Auch diese war <lb n="pwa_399.010"/> besonders im deutschen Mittelalter beliebt und characterisiert jene Zeit <lb n="pwa_399.011"/> unserer Litteratur. Ein Hauptbeispiel für diese Art der personificierenden <lb n="pwa_399.012"/> Allegorie ist die Regula Selphardi, eine ascetische Schrift des dreizehnten <lb n="pwa_399.013"/> Jahrhunderts (LB. 1<hi rendition="#sup">4</hi>, 811. 1<hi rendition="#sup">5</hi>, 991), worin die Selbstsucht, der Eigenwille, <lb n="pwa_399.014"/> als ein Kloster aufgefasst wird; der Abt desselben heisst Bruder <lb n="pwa_399.015"/> Bösewicht, der Prior Anetugent, der Küster Klaffer von der Welt, der <lb n="pwa_399.016"/> Cantor Bruder Kiverêre (Zänker), das Haupt des Conventes Bruder <lb n="pwa_399.017"/> Hêrstuol (Thron), die übrigen Conventualen sind Bruder Zornlin, Bruder <lb n="pwa_399.018"/> Ergelin, Bruder Werre, Bruder Irrsichselben, Bruder Glichesêre, <lb n="pwa_399.019"/> Bruder Hindersprache, Bruder Itelspot, Bruder Clûterêre (Beschmutzer), <lb n="pwa_399.020"/> Bruder Schimphelin, Bruder Unmuoʒe, Bruder Zitverlies und Bruder <lb n="pwa_399.021"/> Itelehre u. s. w. Wenn all dem gegenüber die allegorischen Personificationen <lb n="pwa_399.022"/> der französischen und der deutschen Dichter der Alexandrinerzeit <lb n="pwa_399.023"/> meistens etwas sehr Langweiliges haben, so liegt die Schuld <lb n="pwa_399.024"/> nicht am Tropus, sondern am Dichter. Vgl. Germania Bd. 5, 290 fgg.</p> <p><lb n="pwa_399.025"/> Wie mit der Allegorie, so verbindet sich die Personification gern <lb n="pwa_399.026"/> noch mit einem anderen Tropus, mit der <hi rendition="#b">Anrede, Apostrophe,</hi> d. h. <lb n="pwa_399.027"/> Abwendung von der Sache weg zur Person hin. Die Anrede versinnlicht <lb n="pwa_399.028"/> durch Vergegenwärtigung des Abwesenden. Es wird also entweder <lb n="pwa_399.029"/> eine abwesende Person aufgefasst, als wäre sie gegenwärtig, <lb n="pwa_399.030"/> z. B. ein Verstorbener, als stünde er lebend da, und man dürfte zu <lb n="pwa_399.031"/> ihm sprechen. Eines der schönsten Beispiele bietet ein Lied von Haller, <lb n="pwa_399.032"/> das zugleich auch eins seiner schönsten Gedichte ist: Trauer-Ode beym <lb n="pwa_399.033"/> Absterben seiner geliebten Mariane (LB. 2, 645), wo die Apostrophe <lb n="pwa_399.034"/> durch all die vielen Strophen durchgeführt ist. Oder die Anrede ist <lb n="pwa_399.035"/> an leblose oder abstracte Dinge gerichtet, als wären sie belebt, als <lb n="pwa_399.036"/> wären sie körperlich und gegenwärtig, ein Verfahren, das den graden <lb n="pwa_399.037"/> Gegensatz bildet zu dem Gebrauche, Anwesende mit Er und Sie anzureden. <lb n="pwa_399.038"/> Diese Art der Apostrophe ist ganz häufig; ich erinnere an die <lb n="pwa_399.039"/> bei der Personification beigebrachten Beispiele aus Heinrich von Breslau, <lb n="pwa_399.040"/> aus dem Renner, aus Christian von Hamle und aus Walther von der <lb n="pwa_399.041"/> Vogelweide; aus der neueren Litteratur ist hier namentlich Schillers </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [399/0417]
pwa_399.001
besteht die Allegorie nur dadurch, dass sie zugleich eine Personification pwa_399.002
ist.
pwa_399.003
Auf dem Gipfel aber der möglichen Ausbildung zeigt sich die pwa_399.004
personificierende Allegorie dann, wenn mit der Personification eines pwa_399.005
abstracten Begriffes noch die Namengebung verbunden ist, die Beilegung pwa_399.006
eines bezeichnenden persönlichen Eigennamens; wenn man z. B. pwa_399.007
nicht den Neid, die Selbstsucht ohne Weiteres als Person auffasst, pwa_399.008
sondern an ihre Stelle einen Herrn Neidhart, einen Herrn Selphart pwa_399.009
setzt. Hier haben wir die vollste Personificierung. Auch diese war pwa_399.010
besonders im deutschen Mittelalter beliebt und characterisiert jene Zeit pwa_399.011
unserer Litteratur. Ein Hauptbeispiel für diese Art der personificierenden pwa_399.012
Allegorie ist die Regula Selphardi, eine ascetische Schrift des dreizehnten pwa_399.013
Jahrhunderts (LB. 14, 811. 15, 991), worin die Selbstsucht, der Eigenwille, pwa_399.014
als ein Kloster aufgefasst wird; der Abt desselben heisst Bruder pwa_399.015
Bösewicht, der Prior Anetugent, der Küster Klaffer von der Welt, der pwa_399.016
Cantor Bruder Kiverêre (Zänker), das Haupt des Conventes Bruder pwa_399.017
Hêrstuol (Thron), die übrigen Conventualen sind Bruder Zornlin, Bruder pwa_399.018
Ergelin, Bruder Werre, Bruder Irrsichselben, Bruder Glichesêre, pwa_399.019
Bruder Hindersprache, Bruder Itelspot, Bruder Clûterêre (Beschmutzer), pwa_399.020
Bruder Schimphelin, Bruder Unmuoʒe, Bruder Zitverlies und Bruder pwa_399.021
Itelehre u. s. w. Wenn all dem gegenüber die allegorischen Personificationen pwa_399.022
der französischen und der deutschen Dichter der Alexandrinerzeit pwa_399.023
meistens etwas sehr Langweiliges haben, so liegt die Schuld pwa_399.024
nicht am Tropus, sondern am Dichter. Vgl. Germania Bd. 5, 290 fgg.
pwa_399.025
Wie mit der Allegorie, so verbindet sich die Personification gern pwa_399.026
noch mit einem anderen Tropus, mit der Anrede, Apostrophe, d. h. pwa_399.027
Abwendung von der Sache weg zur Person hin. Die Anrede versinnlicht pwa_399.028
durch Vergegenwärtigung des Abwesenden. Es wird also entweder pwa_399.029
eine abwesende Person aufgefasst, als wäre sie gegenwärtig, pwa_399.030
z. B. ein Verstorbener, als stünde er lebend da, und man dürfte zu pwa_399.031
ihm sprechen. Eines der schönsten Beispiele bietet ein Lied von Haller, pwa_399.032
das zugleich auch eins seiner schönsten Gedichte ist: Trauer-Ode beym pwa_399.033
Absterben seiner geliebten Mariane (LB. 2, 645), wo die Apostrophe pwa_399.034
durch all die vielen Strophen durchgeführt ist. Oder die Anrede ist pwa_399.035
an leblose oder abstracte Dinge gerichtet, als wären sie belebt, als pwa_399.036
wären sie körperlich und gegenwärtig, ein Verfahren, das den graden pwa_399.037
Gegensatz bildet zu dem Gebrauche, Anwesende mit Er und Sie anzureden. pwa_399.038
Diese Art der Apostrophe ist ganz häufig; ich erinnere an die pwa_399.039
bei der Personification beigebrachten Beispiele aus Heinrich von Breslau, pwa_399.040
aus dem Renner, aus Christian von Hamle und aus Walther von der pwa_399.041
Vogelweide; aus der neueren Litteratur ist hier namentlich Schillers
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |