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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873

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passen; wer aber, sei es aus Pedanterei oder aus Ueberfülle der pwa_385.002
Phantasie oder aus welchem Grunde sonst, Bild auf Bild häuft, den pwa_385.003
wird auch die Pedanterei immer nur auf das Einzelne achten lassen, pwa_385.004
und die Phantasie wird ihm die Klüfte verbergen, die ein Bild vom pwa_385.005
andern trennen. [Annotation]

Auch für diesen Fehler giebt es bei den römischen pwa_385.006
Schriftstellern viele Beispiele; so bei Virgil am Anfang des sechsten pwa_385.007
Buches der Aeneis V. 4-8: "Obvertunt pelago proras; tum dente tenaci pwa_385.008
Ancora fundabat navis, et litora curvae Praetexunt puppes. Juvenum pwa_385.009
manus emicat ardens Litus in Hesperium; quaerit pars semina flammae pwa_385.010
Abstrusa in venis silicis, pars densa ferarum Tecta rapit silvas pwa_385.011
inventaque flumina monstrat." [Annotation]

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Und nun zur Betrachtung erst der Figuren, dann der Tropen. pwa_385.013
Die Figuren stehn also auf der niederen Stufe der Versinnlichung, pwa_385.014
insofern sie nicht die gewöhnliche Vorstellung selbst, sondern nur pwa_385.015
deren gewöhnlichen und gleich bei der Hand liegenden Ausdruck pwa_385.016
gegen einen entfernteren, minder gewöhnlichen vertauschen; die Vorstellung pwa_385.017
bleibt die gleiche, der gewählte Ausdruck giebt ihr nur ein pwa_385.018
grösseres Mass von sinnlicher Anschaulichkeit.

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Von allen Figuren die geläufigste, mit der wir deshalb den pwa_385.020
Anfang der Reihe machen wollen, ist die Versinnlichung und Veranschaulichung pwa_385.021
eines substantivischen Begriffes durch ein schmückendes pwa_385.022
Beiwort,
ein sogenanntes Epitheton ornans, dass man also z. B. nicht pwa_385.023
von einer Hütte spricht, sondern von einer niederen Hütte, und nicht pwa_385.024
von einem Dache dieser niederen Hütte, sondern von einem bemoosten pwa_385.025
Dache, und nicht von einem Landmann in derselben, sondern von pwa_385.026
einem zufriedenen Landmann. Diese Epitheta bezeichnen entweder pwa_385.027
allgemein gültige, den Substantiven ein für alle Mal und unter allen pwa_385.028
Umständen anhangende oder doch zukommende Eigenschaften, sind pwa_385.029
also stehende epische Beiwörter der Personen und Dinge; oder ihre pwa_385.030
Begründung und Gültigkeit liegt erst in den grade waltenden Umständen, pwa_385.031
sie hangen den Substantiven nur an, insofern sie grade hier und pwa_385.032
grade so erscheinen und wirken: zu jener Art gehört die niedere pwa_385.033
Hütte, der zufriedene Landmann, zu dieser dagegen das bemooste pwa_385.034
Dach, weil dieses Beiwort bloss gelegentlich beigelegt ist. Die Epitheta pwa_385.035
ornantia sind aller Poesie aller Völker und Zeiten geläufig, und pwa_385.036
das ist auch ganz natürlich bei der grossen Einfachheit. Aber der pwa_385.037
Gebrauch wird auch oft genug übertrieben: es giebt Dichter, die kaum pwa_385.038
mehr ein Substantiv setzen können ohne ein Epitheton: da läuft denn pwa_385.039
auch manches Müssige mit unter, mancher Pleonasmus, wie alter pwa_385.040
Greis, und diese gleichmässig fortlaufende Reihe von Substantiv und pwa_385.041
Adjectiv, Substantiv und Adjectiv hat für die Einbildung und sogar

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passen; wer aber, sei es aus Pedanterei oder aus Ueberfülle der pwa_385.002
Phantasie oder aus welchem Grunde sonst, Bild auf Bild häuft, den pwa_385.003
wird auch die Pedanterei immer nur auf das Einzelne achten lassen, pwa_385.004
und die Phantasie wird ihm die Klüfte verbergen, die ein Bild vom pwa_385.005
andern trennen. [Annotation]

Auch für diesen Fehler giebt es bei den römischen pwa_385.006
Schriftstellern viele Beispiele; so bei Virgil am Anfang des sechsten pwa_385.007
Buches der Aeneis V. 4–8: „Obvertunt pelago proras; tum dente tenaci pwa_385.008
Ancora fundabat navis, et litora curvae Praetexunt puppes. Juvenum pwa_385.009
manus emicat ardens Litus in Hesperium; quaerit pars semina flammae pwa_385.010
Abstrusa in venis silicis, pars densa ferarum Tecta rapit silvas pwa_385.011
inventaque flumina monstrat.“ [Annotation]

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Und nun zur Betrachtung erst der Figuren, dann der Tropen. pwa_385.013
Die Figuren stehn also auf der niederen Stufe der Versinnlichung, pwa_385.014
insofern sie nicht die gewöhnliche Vorstellung selbst, sondern nur pwa_385.015
deren gewöhnlichen und gleich bei der Hand liegenden Ausdruck pwa_385.016
gegen einen entfernteren, minder gewöhnlichen vertauschen; die Vorstellung pwa_385.017
bleibt die gleiche, der gewählte Ausdruck giebt ihr nur ein pwa_385.018
grösseres Mass von sinnlicher Anschaulichkeit.

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Von allen Figuren die geläufigste, mit der wir deshalb den pwa_385.020
Anfang der Reihe machen wollen, ist die Versinnlichung und Veranschaulichung pwa_385.021
eines substantivischen Begriffes durch ein schmückendes pwa_385.022
Beiwort,
ein sogenanntes Epitheton ornans, dass man also z. B. nicht pwa_385.023
von einer Hütte spricht, sondern von einer niederen Hütte, und nicht pwa_385.024
von einem Dache dieser niederen Hütte, sondern von einem bemoosten pwa_385.025
Dache, und nicht von einem Landmann in derselben, sondern von pwa_385.026
einem zufriedenen Landmann. Diese Epitheta bezeichnen entweder pwa_385.027
allgemein gültige, den Substantiven ein für alle Mal und unter allen pwa_385.028
Umständen anhangende oder doch zukommende Eigenschaften, sind pwa_385.029
also stehende epische Beiwörter der Personen und Dinge; oder ihre pwa_385.030
Begründung und Gültigkeit liegt erst in den grade waltenden Umständen, pwa_385.031
sie hangen den Substantiven nur an, insofern sie grade hier und pwa_385.032
grade so erscheinen und wirken: zu jener Art gehört die niedere pwa_385.033
Hütte, der zufriedene Landmann, zu dieser dagegen das bemooste pwa_385.034
Dach, weil dieses Beiwort bloss gelegentlich beigelegt ist. Die Epitheta pwa_385.035
ornantia sind aller Poesie aller Völker und Zeiten geläufig, und pwa_385.036
das ist auch ganz natürlich bei der grossen Einfachheit. Aber der pwa_385.037
Gebrauch wird auch oft genug übertrieben: es giebt Dichter, die kaum pwa_385.038
mehr ein Substantiv setzen können ohne ein Epitheton: da läuft denn pwa_385.039
auch manches Müssige mit unter, mancher Pleonasmus, wie alter pwa_385.040
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[385/0403] pwa_385.001 passen; wer aber, sei es aus Pedanterei oder aus Ueberfülle der pwa_385.002 Phantasie oder aus welchem Grunde sonst, Bild auf Bild häuft, den pwa_385.003 wird auch die Pedanterei immer nur auf das Einzelne achten lassen, pwa_385.004 und die Phantasie wird ihm die Klüfte verbergen, die ein Bild vom pwa_385.005 andern trennen. Katachrese als parallelkategorie Auch für diesen Fehler giebt es bei den römischen pwa_385.006 Schriftstellern viele Beispiele; so bei Virgil am Anfang des sechsten pwa_385.007 Buches der Aeneis V. 4–8: „Obvertunt pelago proras; tum dente tenaci pwa_385.008 Ancora fundabat navis, et litora curvae Praetexunt puppes. Juvenum pwa_385.009 manus emicat ardens Litus in Hesperium; quaerit pars semina flammae pwa_385.010 Abstrusa in venis silicis, pars densa ferarum Tecta rapit silvas pwa_385.011 inventaque flumina monstrat.“ Quelle Virgil, Aeneis V. 4-8, Anfang des sechsten Buches Virgil Aeneis V. 4-8 http://data.perseus.org/citations/urn:cts:latinLit:phi0690.phi003.perseus-lat1:6.1-6.13 pwa_385.012 Und nun zur Betrachtung erst der Figuren, dann der Tropen. pwa_385.013 Die Figuren stehn also auf der niederen Stufe der Versinnlichung, pwa_385.014 insofern sie nicht die gewöhnliche Vorstellung selbst, sondern nur pwa_385.015 deren gewöhnlichen und gleich bei der Hand liegenden Ausdruck pwa_385.016 gegen einen entfernteren, minder gewöhnlichen vertauschen; die Vorstellung pwa_385.017 bleibt die gleiche, der gewählte Ausdruck giebt ihr nur ein pwa_385.018 grösseres Mass von sinnlicher Anschaulichkeit. pwa_385.019 Von allen Figuren die geläufigste, mit der wir deshalb den pwa_385.020 Anfang der Reihe machen wollen, ist die Versinnlichung und Veranschaulichung pwa_385.021 eines substantivischen Begriffes durch ein schmückendes pwa_385.022 Beiwort, ein sogenanntes Epitheton ornans, dass man also z. B. nicht pwa_385.023 von einer Hütte spricht, sondern von einer niederen Hütte, und nicht pwa_385.024 von einem Dache dieser niederen Hütte, sondern von einem bemoosten pwa_385.025 Dache, und nicht von einem Landmann in derselben, sondern von pwa_385.026 einem zufriedenen Landmann. Diese Epitheta bezeichnen entweder pwa_385.027 allgemein gültige, den Substantiven ein für alle Mal und unter allen pwa_385.028 Umständen anhangende oder doch zukommende Eigenschaften, sind pwa_385.029 also stehende epische Beiwörter der Personen und Dinge; oder ihre pwa_385.030 Begründung und Gültigkeit liegt erst in den grade waltenden Umständen, pwa_385.031 sie hangen den Substantiven nur an, insofern sie grade hier und pwa_385.032 grade so erscheinen und wirken: zu jener Art gehört die niedere pwa_385.033 Hütte, der zufriedene Landmann, zu dieser dagegen das bemooste pwa_385.034 Dach, weil dieses Beiwort bloss gelegentlich beigelegt ist. Die Epitheta pwa_385.035 ornantia sind aller Poesie aller Völker und Zeiten geläufig, und pwa_385.036 das ist auch ganz natürlich bei der grossen Einfachheit. Aber der pwa_385.037 Gebrauch wird auch oft genug übertrieben: es giebt Dichter, die kaum pwa_385.038 mehr ein Substantiv setzen können ohne ein Epitheton: da läuft denn pwa_385.039 auch manches Müssige mit unter, mancher Pleonasmus, wie alter pwa_385.040 Greis, und diese gleichmässig fortlaufende Reihe von Substantiv und pwa_385.041 Adjectiv, Substantiv und Adjectiv hat für die Einbildung und sogar

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Zitationshilfe: Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 385. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/403>, abgerufen am 22.11.2024.