Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_381.001 pwa_381.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0399" n="381"/><lb n="pwa_381.001"/> Rhetoren, und nach ihrem Beispiel von den römischen und von den <lb n="pwa_381.002"/> modernen, wieder unter zwei grosse Hauptclassen vereinigt, werden <lb n="pwa_381.003"/> theils auf griechisch <foreign xml:lang="grc">σχήματα</foreign>, auf lateinisch <hi rendition="#i">figurae,</hi> theils <foreign xml:lang="grc">τρόποι</foreign>, <lb n="pwa_381.004"/> <hi rendition="#i">tropi</hi> genannt. Ueber die Gründe und Merkmale dieser Unterscheidung <lb n="pwa_381.005"/> lässt sich jedoch kaum ein einziger weder von den Alten noch <lb n="pwa_381.006"/> von den Neuen mit rechter Schärfe und Deutlichkeit vernehmen. Man <lb n="pwa_381.007"/> vergleiche darüber etwa Quintilian 1, 8 und 9, 1, der aber auch diesen <lb n="pwa_381.008"/> Gegenstand weder sich selbst, noch Anderen recht klar zu machen <lb n="pwa_381.009"/> weiss. Es kommt der Unterschied etwa auf Folgendes hinaus: bei <lb n="pwa_381.010"/> der Figur bleibt die Vorstellung selbst unverändert, und man giebt <lb n="pwa_381.011"/> ihr nur durch Umschreibung oder durch Hinzufügung anderer Begriffe <lb n="pwa_381.012"/> oder durch eine Vergleichung mehr Sinnlichkeit des Ausdruckes; beim <lb n="pwa_381.013"/> Tropus dagegen wird die zunächst liegende und eigentliche Vorstellung <lb n="pwa_381.014"/> selbst gegen eine andere vertauscht; die Figur verändert nur <lb n="pwa_381.015"/> den Ausdruck, nicht aber die Vorstellung: der Tropus die Vorstellung <lb n="pwa_381.016"/> und mit ihr den Ausdruck; bei der Figur liegt hinter dem uneigentlichen <lb n="pwa_381.017"/> Ausdruck immer noch der eigentliche, und beide sind durch <lb n="pwa_381.018"/> ein wirklich Ausgesprochenes oder auch Verschwiegenes gleichwie <lb n="pwa_381.019"/> mit einander verbunden: beim Tropus aber ist nur der uneigentliche <lb n="pwa_381.020"/> Ausdruck vorhanden, da ja die Vorstellung selbst uneigentlich <lb n="pwa_381.021"/> geworden ist. Bei der Figur ist die Vorstellung in sich dieselbe <lb n="pwa_381.022"/> geblieben und nur äusserlich anders <hi rendition="#i">gestaltet;</hi> darum der Name <foreign xml:lang="grc">σχῆμα</foreign>: <lb n="pwa_381.023"/> beim Tropus dagegen haben Vorstellung und Ausdruck beide die <lb n="pwa_381.024"/> eigentliche Stelle ganz verlassen und sich anderswohin <hi rendition="#i">gewendet</hi> und <lb n="pwa_381.025"/> gerichtet; darum der Name <foreign xml:lang="grc">τρόπος</foreign>. Es ist also z. B. eine blosse <lb n="pwa_381.026"/> Figur, wenn man sagt <hi rendition="#i">das blaue Meer, der silberne Bach:</hi> die Vorstellung <lb n="pwa_381.027"/> Meer und Bach bleibt, wird nur mehr versinnlicht durch das <lb n="pwa_381.028"/> Beiwort blau, silbern; sagt man dagegen anstatt Meer <hi rendition="#i">blaues Salz</hi> <lb n="pwa_381.029"/> oder anstatt Bach <hi rendition="#i">silbernes Band,</hi> so ist es ein Tropus, eine ungewöhnliche, <lb n="pwa_381.030"/> mehr sinnliche Vorstellung, welche die gewöhnliche, darum <lb n="pwa_381.031"/> minder sinnliche von ihrem Platze verdrängt. Ein so merklicher Unterschied <lb n="pwa_381.032"/> mithin allerdings besteht zwischen Tropen und Figuren, sobald <lb n="pwa_381.033"/> man die Sache im Grossen und Ganzen nimmt, so unbequem wird er <lb n="pwa_381.034"/> und so unpractisch, sobald man ihn in das Einzelne hinein weiter <lb n="pwa_381.035"/> ausführen will; oft genug wird man zweifeln, ob eine Ausdrucksweise <lb n="pwa_381.036"/> figürlich oder tropisch sei. Ein Beispiel dieser Art ist <hi rendition="#i">Himmelszelt:</hi> <lb n="pwa_381.037"/> das ganz eigentlich bezeichnende Wort <hi rendition="#i">Himmel</hi> ist hier noch mit beibehalten, <lb n="pwa_381.038"/> und in so fern ist es eine Figur; aber der Hauptbegriff <lb n="pwa_381.039"/> dieser Zusammensetzung ist das uneigentliche bildliche Wort <hi rendition="#i">Zelt,</hi> in <lb n="pwa_381.040"/> so fern ist es ein Tropus. Zudem kennt auch die producierende Einbildung <lb n="pwa_381.041"/> eines rechten Dichters diesen Unterschied nicht: ihr ist im </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [381/0399]
pwa_381.001
Rhetoren, und nach ihrem Beispiel von den römischen und von den pwa_381.002
modernen, wieder unter zwei grosse Hauptclassen vereinigt, werden pwa_381.003
theils auf griechisch σχήματα, auf lateinisch figurae, theils τρόποι, pwa_381.004
tropi genannt. Ueber die Gründe und Merkmale dieser Unterscheidung pwa_381.005
lässt sich jedoch kaum ein einziger weder von den Alten noch pwa_381.006
von den Neuen mit rechter Schärfe und Deutlichkeit vernehmen. Man pwa_381.007
vergleiche darüber etwa Quintilian 1, 8 und 9, 1, der aber auch diesen pwa_381.008
Gegenstand weder sich selbst, noch Anderen recht klar zu machen pwa_381.009
weiss. Es kommt der Unterschied etwa auf Folgendes hinaus: bei pwa_381.010
der Figur bleibt die Vorstellung selbst unverändert, und man giebt pwa_381.011
ihr nur durch Umschreibung oder durch Hinzufügung anderer Begriffe pwa_381.012
oder durch eine Vergleichung mehr Sinnlichkeit des Ausdruckes; beim pwa_381.013
Tropus dagegen wird die zunächst liegende und eigentliche Vorstellung pwa_381.014
selbst gegen eine andere vertauscht; die Figur verändert nur pwa_381.015
den Ausdruck, nicht aber die Vorstellung: der Tropus die Vorstellung pwa_381.016
und mit ihr den Ausdruck; bei der Figur liegt hinter dem uneigentlichen pwa_381.017
Ausdruck immer noch der eigentliche, und beide sind durch pwa_381.018
ein wirklich Ausgesprochenes oder auch Verschwiegenes gleichwie pwa_381.019
mit einander verbunden: beim Tropus aber ist nur der uneigentliche pwa_381.020
Ausdruck vorhanden, da ja die Vorstellung selbst uneigentlich pwa_381.021
geworden ist. Bei der Figur ist die Vorstellung in sich dieselbe pwa_381.022
geblieben und nur äusserlich anders gestaltet; darum der Name σχῆμα: pwa_381.023
beim Tropus dagegen haben Vorstellung und Ausdruck beide die pwa_381.024
eigentliche Stelle ganz verlassen und sich anderswohin gewendet und pwa_381.025
gerichtet; darum der Name τρόπος. Es ist also z. B. eine blosse pwa_381.026
Figur, wenn man sagt das blaue Meer, der silberne Bach: die Vorstellung pwa_381.027
Meer und Bach bleibt, wird nur mehr versinnlicht durch das pwa_381.028
Beiwort blau, silbern; sagt man dagegen anstatt Meer blaues Salz pwa_381.029
oder anstatt Bach silbernes Band, so ist es ein Tropus, eine ungewöhnliche, pwa_381.030
mehr sinnliche Vorstellung, welche die gewöhnliche, darum pwa_381.031
minder sinnliche von ihrem Platze verdrängt. Ein so merklicher Unterschied pwa_381.032
mithin allerdings besteht zwischen Tropen und Figuren, sobald pwa_381.033
man die Sache im Grossen und Ganzen nimmt, so unbequem wird er pwa_381.034
und so unpractisch, sobald man ihn in das Einzelne hinein weiter pwa_381.035
ausführen will; oft genug wird man zweifeln, ob eine Ausdrucksweise pwa_381.036
figürlich oder tropisch sei. Ein Beispiel dieser Art ist Himmelszelt: pwa_381.037
das ganz eigentlich bezeichnende Wort Himmel ist hier noch mit beibehalten, pwa_381.038
und in so fern ist es eine Figur; aber der Hauptbegriff pwa_381.039
dieser Zusammensetzung ist das uneigentliche bildliche Wort Zelt, in pwa_381.040
so fern ist es ein Tropus. Zudem kennt auch die producierende Einbildung pwa_381.041
eines rechten Dichters diesen Unterschied nicht: ihr ist im
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |