Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_378.001 pwa_378.005 pwa_378.022 pwa_378.001 pwa_378.005 pwa_378.022 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0396" n="378"/><lb n="pwa_378.001"/> nennt, sondern <hi rendition="#i">Knochen.</hi> Sie sind aber nur darum verwerflich, weil <lb n="pwa_378.002"/> der Ausdruck <hi rendition="#i">verrecken</hi> die Vorstellung des Gestankes, der Ausdruck <lb n="pwa_378.003"/> <hi rendition="#i">Knochen</hi> auch entweder diese oder doch die des Schmeckens mit <lb n="pwa_378.004"/> sich führt.</p> <p><lb n="pwa_378.005"/> Indessen keine Regel ohne Ausnahme. Mitunter können grade <lb n="pwa_378.006"/> solche niedrige sinnliche Worte wohl an ihrem Platze sein, und besser <lb n="pwa_378.007"/> am Platze, als andere es wären. Der herbe Spott, die bittere Ironie <lb n="pwa_378.008"/> können mitunter dergleichen gradezu fordern, können um die Schärfe <lb n="pwa_378.009"/> ihres Widerspruches recht herauszukehren, das eigentlichste, niedrigste, <lb n="pwa_378.010"/> unschönste Wort verlangen. Als Beispiel mögen zwei Gedichte dienen, <lb n="pwa_378.011"/> eins von Platen, eins von Chamisso, in denen beiden grade die angeführten <lb n="pwa_378.012"/> Ausdrücke <hi rendition="#i">verrecken</hi> und <hi rendition="#i">Knochen</hi> als letztes stärkstes Wort <lb n="pwa_378.013"/> vorkommen, und die beide viel von der Energie ihrer Bitterkeit verlieren <lb n="pwa_378.014"/> würden, wenn man diese Ausdrücke gegen sogenannte edlere <lb n="pwa_378.015"/> vertauschen wollte. Platen schliesst seinen Gesang der Polen mit den <lb n="pwa_378.016"/> Worten: „Aber einst aus meinen Knochen wird ein Rächer auferstehn“ <lb n="pwa_378.017"/> (vgl. Virgil. Aen. 4, 625 exoriare aliquis nostris ex ossibus ultor); <lb n="pwa_378.018"/> und Chamisso endigt sein Gedicht „Der Bettler und sein Hund“ mit <lb n="pwa_378.019"/> folgender Strophe: „Er ward verscharret in stiller Stund; Es folgt' <lb n="pwa_378.020"/> ihm winselnd nur der Hund. Der hat, wo der Leib die Erde deckt, <lb n="pwa_378.021"/> Sich hingestreckt, und ist da verreckt“ LB. 2, 1676.</p> <p><lb n="pwa_378.022"/> Abgesehen von dergleichen Ausnahmen, die jezuweilen eintreten <lb n="pwa_378.023"/> mögen, aus denen sich aber keine allgemein gültige Vorschrift ableiten <lb n="pwa_378.024"/> lässt, abgesehen davon muss die Sinnlichkeit des poetischen Ausdruckes <lb n="pwa_378.025"/> immer eine Sinnlichkeit für Auge oder Ohr sein. Auf dieselbe <lb n="pwa_378.026"/> Weise aber, wie Gesicht und Gehör über dem Gefühl, dem Geruch <lb n="pwa_378.027"/> und dem Geschmack stehn, auf dieselbe Weise steht das Gesicht <lb n="pwa_378.028"/> wiederum über dem Gehör, aus Gründen, deren vollständige Erörterung <lb n="pwa_378.029"/> hier zu weit und aus der Stilistik in die Physiologie und Psychologie <lb n="pwa_378.030"/> führen würde. Das Gesicht nimmt Dinge, Thätigkeiten und <lb n="pwa_378.031"/> Eigenschaften wahr, das Gehör nur Thätigkeiten und kaum Eigenschaften: <lb n="pwa_378.032"/> kurz das Gesicht nimmt in der Rangordnung der Sinne den <lb n="pwa_378.033"/> obersten Platz ein, und erst nach ihm kommt das Gehör. Diesen <lb n="pwa_378.034"/> Vorrang des Gesichts vor dem Gehör und gar vor den übrigen Sinnen <lb n="pwa_378.035"/> zeigt schon überall die Sprache darin, dass die meisten Ausdrücke <lb n="pwa_378.036"/> für sinnliche Wahrnehmungen überhaupt sich zurückleiten auf den <lb n="pwa_378.037"/> Sinn des Gesichts, von seinen Wahrnehmungen erst auf die der andern <lb n="pwa_378.038"/> Sinne übertragen sind. So heisst z. B. <hi rendition="#i">riechen</hi> eigentlich s. v. a. rauchen, <lb n="pwa_378.039"/> <hi rendition="#i">Duft</hi> s. v. a. Dunst, Nebel, beides also ursprünglich Wahrnehmungen <lb n="pwa_378.040"/> des Gesichts. Besonders aber pflegen die Vorstellungen, die <lb n="pwa_378.041"/> sich auf das Sehen und das Hören begründen, in das gleiche Wort </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [378/0396]
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nennt, sondern Knochen. Sie sind aber nur darum verwerflich, weil pwa_378.002
der Ausdruck verrecken die Vorstellung des Gestankes, der Ausdruck pwa_378.003
Knochen auch entweder diese oder doch die des Schmeckens mit pwa_378.004
sich führt.
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Indessen keine Regel ohne Ausnahme. Mitunter können grade pwa_378.006
solche niedrige sinnliche Worte wohl an ihrem Platze sein, und besser pwa_378.007
am Platze, als andere es wären. Der herbe Spott, die bittere Ironie pwa_378.008
können mitunter dergleichen gradezu fordern, können um die Schärfe pwa_378.009
ihres Widerspruches recht herauszukehren, das eigentlichste, niedrigste, pwa_378.010
unschönste Wort verlangen. Als Beispiel mögen zwei Gedichte dienen, pwa_378.011
eins von Platen, eins von Chamisso, in denen beiden grade die angeführten pwa_378.012
Ausdrücke verrecken und Knochen als letztes stärkstes Wort pwa_378.013
vorkommen, und die beide viel von der Energie ihrer Bitterkeit verlieren pwa_378.014
würden, wenn man diese Ausdrücke gegen sogenannte edlere pwa_378.015
vertauschen wollte. Platen schliesst seinen Gesang der Polen mit den pwa_378.016
Worten: „Aber einst aus meinen Knochen wird ein Rächer auferstehn“ pwa_378.017
(vgl. Virgil. Aen. 4, 625 exoriare aliquis nostris ex ossibus ultor); pwa_378.018
und Chamisso endigt sein Gedicht „Der Bettler und sein Hund“ mit pwa_378.019
folgender Strophe: „Er ward verscharret in stiller Stund; Es folgt' pwa_378.020
ihm winselnd nur der Hund. Der hat, wo der Leib die Erde deckt, pwa_378.021
Sich hingestreckt, und ist da verreckt“ LB. 2, 1676.
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Abgesehen von dergleichen Ausnahmen, die jezuweilen eintreten pwa_378.023
mögen, aus denen sich aber keine allgemein gültige Vorschrift ableiten pwa_378.024
lässt, abgesehen davon muss die Sinnlichkeit des poetischen Ausdruckes pwa_378.025
immer eine Sinnlichkeit für Auge oder Ohr sein. Auf dieselbe pwa_378.026
Weise aber, wie Gesicht und Gehör über dem Gefühl, dem Geruch pwa_378.027
und dem Geschmack stehn, auf dieselbe Weise steht das Gesicht pwa_378.028
wiederum über dem Gehör, aus Gründen, deren vollständige Erörterung pwa_378.029
hier zu weit und aus der Stilistik in die Physiologie und Psychologie pwa_378.030
führen würde. Das Gesicht nimmt Dinge, Thätigkeiten und pwa_378.031
Eigenschaften wahr, das Gehör nur Thätigkeiten und kaum Eigenschaften: pwa_378.032
kurz das Gesicht nimmt in der Rangordnung der Sinne den pwa_378.033
obersten Platz ein, und erst nach ihm kommt das Gehör. Diesen pwa_378.034
Vorrang des Gesichts vor dem Gehör und gar vor den übrigen Sinnen pwa_378.035
zeigt schon überall die Sprache darin, dass die meisten Ausdrücke pwa_378.036
für sinnliche Wahrnehmungen überhaupt sich zurückleiten auf den pwa_378.037
Sinn des Gesichts, von seinen Wahrnehmungen erst auf die der andern pwa_378.038
Sinne übertragen sind. So heisst z. B. riechen eigentlich s. v. a. rauchen, pwa_378.039
Duft s. v. a. Dunst, Nebel, beides also ursprünglich Wahrnehmungen pwa_378.040
des Gesichts. Besonders aber pflegen die Vorstellungen, die pwa_378.041
sich auf das Sehen und das Hören begründen, in das gleiche Wort
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