Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_374.001 pwa_374.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <pb facs="#f0392" n="374"/> <p><lb n="pwa_374.001"/> In Bezug aber auf die Barbarismen innerhalb der poetischen Rede <lb n="pwa_374.002"/> ist hier eine kleine litterar-historische Abschweifung zu machen. Das <lb n="pwa_374.003"/> Mittelalter, von den letzten Zeiten der römischen Litteratur, von deren <lb n="pwa_374.004"/> Verfall an gerechnet, kannte zwei Arten von Barbarismen im poetischen <lb n="pwa_374.005"/> Stil, zwei Arten, die aber nah zusammengrenzen und sich nicht <lb n="pwa_374.006"/> selten vereinigen. Beide Arten aber gestattete man sich gewöhnlich <lb n="pwa_374.007"/> nur da, wo man sie sich wohl gestatten durfte, wo sie sogar förderlich <lb n="pwa_374.008"/> erscheinen konnten, in komischen, in spöttischen Dichtungen, <lb n="pwa_374.009"/> zuweilen auch sonst, wiewohl ungehörig genug; aber auch für die <lb n="pwa_374.010"/> Komik waren beide doch ein etwas zu derbes Mittel, Lachen zu erregen: <lb n="pwa_374.011"/> daher sind sie denn auch in den letzten Epochen der Litteratur <lb n="pwa_374.012"/> wieder gänzlich verschwunden. Die eine Art bestand in dem Gebrauch, <lb n="pwa_374.013"/> bald mehr, bald weniger Worte einer fremden Sprache, ja ganze <lb n="pwa_374.014"/> Verse einer solchen in die sonst nationale Dichtung einzumischen. <lb n="pwa_374.015"/> Natürlich war die fremde Sprache nie eine ganz fremde, ganz unverständliche, <lb n="pwa_374.016"/> sondern eine, deren Kenntniss man wenigstens bei gebildeten <lb n="pwa_374.017"/> und gelehrten Lesern und Hörern voraussetzen durfte. So <lb n="pwa_374.018"/> mischt Ausonius (Epistol. 12. Epigram. 28. 32. 40) Scherzes halber <lb n="pwa_374.019"/> Lateinisch und Griechisch durch einander; so giebt es von Dante eine <lb n="pwa_374.020"/> ganz ernsthafte Canzone, die aus italiänischen, lateinischen und provenzalischen <lb n="pwa_374.021"/> Versen besteht, so von Lope de Vega Sonette, wo castilische, <lb n="pwa_374.022"/> lateinische, portugiesische und italiänische Verse mit einander <lb n="pwa_374.023"/> abwechseln. So endlich auch schon vom zehnten Jahrhundert an <lb n="pwa_374.024"/> deutsch-lateinische Gedichte; z. B. ein ernstes historisches Gedicht <lb n="pwa_374.025"/> des zehnten Jahrhunderts, dessen Verse abwechselnd lateinisch und <lb n="pwa_374.026"/> deutsch sind: „Nunc almus thero ewigun filius assis thiernun benignus <lb n="pwa_374.027"/> fautor mihi, thaʒ ig iʒ cosan muoʒi de quodam duce, themo heron Heinriche, <lb n="pwa_374.028"/> qui cum dignitate thero Beiaro riche bewarode“ u. s. f. LB. <lb n="pwa_374.029"/> 1<hi rendition="#sup">4</hi>, 109 (1<hi rendition="#sup">5</hi>, 287); ein satirisches Lied, wahrscheinlich für fahrende Schüler, <lb n="pwa_374.030"/> aus dem zwölften Jahrhundert: „Audientes audiant! diu schande vert al <lb n="pwa_374.031"/> über daʒ lant“ u. s. w. LB. 1<hi rendition="#sup">4</hi>, 218 (1<hi rendition="#sup">5</hi>, 396. Carmina buran. 73 fg.); dann <lb n="pwa_374.032"/> wieder geistliche Lieder, z. B. ein Weihnachtslied, das gewöhnlich <lb n="pwa_374.033"/> dem Peter von Dresden (gest. 1440) zugeschrieben wird, aber schon <lb n="pwa_374.034"/> im vierzehnten Jahrhundert bekannt war und bis um das Jahr 1700 <lb n="pwa_374.035"/> auch in protestantischen Gesangbüchern vorkommt: „In dulci jubilo nu <lb n="pwa_374.036"/> singet und seit fro! aller unser wonne leit in praesepio; sie leuchtet <lb n="pwa_374.037"/> vor die sonne matris in gremio; qui est a et o, qui est a et o“ LB. <lb n="pwa_374.038"/> 1<hi rendition="#sup">4</hi>, 1177 (1<hi rendition="#sup">5</hi>, 1357). Endlich begegnet uns die Sprachmischung wieder im <lb n="pwa_374.039"/> sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert: besonders sind es Trinklieder, <lb n="pwa_374.040"/> die deutsch-lateinisch abgefasst wurden; Studenten sind wohl die <lb n="pwa_374.041"/> Dichter derselben, und wandernde Studenten mochten sie auch singen, </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [374/0392]
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In Bezug aber auf die Barbarismen innerhalb der poetischen Rede pwa_374.002
ist hier eine kleine litterar-historische Abschweifung zu machen. Das pwa_374.003
Mittelalter, von den letzten Zeiten der römischen Litteratur, von deren pwa_374.004
Verfall an gerechnet, kannte zwei Arten von Barbarismen im poetischen pwa_374.005
Stil, zwei Arten, die aber nah zusammengrenzen und sich nicht pwa_374.006
selten vereinigen. Beide Arten aber gestattete man sich gewöhnlich pwa_374.007
nur da, wo man sie sich wohl gestatten durfte, wo sie sogar förderlich pwa_374.008
erscheinen konnten, in komischen, in spöttischen Dichtungen, pwa_374.009
zuweilen auch sonst, wiewohl ungehörig genug; aber auch für die pwa_374.010
Komik waren beide doch ein etwas zu derbes Mittel, Lachen zu erregen: pwa_374.011
daher sind sie denn auch in den letzten Epochen der Litteratur pwa_374.012
wieder gänzlich verschwunden. Die eine Art bestand in dem Gebrauch, pwa_374.013
bald mehr, bald weniger Worte einer fremden Sprache, ja ganze pwa_374.014
Verse einer solchen in die sonst nationale Dichtung einzumischen. pwa_374.015
Natürlich war die fremde Sprache nie eine ganz fremde, ganz unverständliche, pwa_374.016
sondern eine, deren Kenntniss man wenigstens bei gebildeten pwa_374.017
und gelehrten Lesern und Hörern voraussetzen durfte. So pwa_374.018
mischt Ausonius (Epistol. 12. Epigram. 28. 32. 40) Scherzes halber pwa_374.019
Lateinisch und Griechisch durch einander; so giebt es von Dante eine pwa_374.020
ganz ernsthafte Canzone, die aus italiänischen, lateinischen und provenzalischen pwa_374.021
Versen besteht, so von Lope de Vega Sonette, wo castilische, pwa_374.022
lateinische, portugiesische und italiänische Verse mit einander pwa_374.023
abwechseln. So endlich auch schon vom zehnten Jahrhundert an pwa_374.024
deutsch-lateinische Gedichte; z. B. ein ernstes historisches Gedicht pwa_374.025
des zehnten Jahrhunderts, dessen Verse abwechselnd lateinisch und pwa_374.026
deutsch sind: „Nunc almus thero ewigun filius assis thiernun benignus pwa_374.027
fautor mihi, thaʒ ig iʒ cosan muoʒi de quodam duce, themo heron Heinriche, pwa_374.028
qui cum dignitate thero Beiaro riche bewarode“ u. s. f. LB. pwa_374.029
14, 109 (15, 287); ein satirisches Lied, wahrscheinlich für fahrende Schüler, pwa_374.030
aus dem zwölften Jahrhundert: „Audientes audiant! diu schande vert al pwa_374.031
über daʒ lant“ u. s. w. LB. 14, 218 (15, 396. Carmina buran. 73 fg.); dann pwa_374.032
wieder geistliche Lieder, z. B. ein Weihnachtslied, das gewöhnlich pwa_374.033
dem Peter von Dresden (gest. 1440) zugeschrieben wird, aber schon pwa_374.034
im vierzehnten Jahrhundert bekannt war und bis um das Jahr 1700 pwa_374.035
auch in protestantischen Gesangbüchern vorkommt: „In dulci jubilo nu pwa_374.036
singet und seit fro! aller unser wonne leit in praesepio; sie leuchtet pwa_374.037
vor die sonne matris in gremio; qui est a et o, qui est a et o“ LB. pwa_374.038
14, 1177 (15, 1357). Endlich begegnet uns die Sprachmischung wieder im pwa_374.039
sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert: besonders sind es Trinklieder, pwa_374.040
die deutsch-lateinisch abgefasst wurden; Studenten sind wohl die pwa_374.041
Dichter derselben, und wandernde Studenten mochten sie auch singen,
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