Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_370.001 pwa_370.025 pwa_370.001 pwa_370.025 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <pb facs="#f0388" n="370"/> <p><lb n="pwa_370.001"/> Wir haben nämlich schon früher (S. 321) innerhalb dieser mittleren <lb n="pwa_370.002"/> von den drei Hauptgattungen des Stils wiederum drei Arten unterschieden, <lb n="pwa_370.003"/> eine niedere, eine mittlere und eine höhere Art. Als niedere <lb n="pwa_370.004"/> Art haben wir die komische, als mittlere die epische, als höhere die <lb n="pwa_370.005"/> tragische Poesie hingestellt. Von diesen drei Arten zeigt nur die <lb n="pwa_370.006"/> mittlere, nur die Epik, das Gesetz der Anschaulichkeit in seiner reinsten <lb n="pwa_370.007"/> und am mindesten beschränkten Geltung: die Epik ist eine so <lb n="pwa_370.008"/> unverkümmerte Schöpfung der Einbildungskraft, wie sonst keinerlei <lb n="pwa_370.009"/> Dichtung, und es werden deshalb die einzelnen Bemerkungen, mit <lb n="pwa_370.010"/> denen wir jenes allgemeine Gesetz weiterhin zu entwickeln haben, <lb n="pwa_370.011"/> sich vorzüglich und meistentheils auf die epische Poesie beziehen. <lb n="pwa_370.012"/> Die komische und die tragische dagegen liegen jede an einer Grenze <lb n="pwa_370.013"/> des Uebergangs: bei jener übt noch der Verstand, bei dieser schon <lb n="pwa_370.014"/> das Gefühl einen sehr merkbaren Einfluss sowohl auf die Anschauung <lb n="pwa_370.015"/> als auf die Art und Weise der Darstellung. Denn in der komischen <lb n="pwa_370.016"/> Poesie ist die Anschauung von Spott, in der tragischen von Wehmuth <lb n="pwa_370.017"/> begleitet; in der komischen geräth der Verstand, in der tragischen <lb n="pwa_370.018"/> das Gefühl mit der Wirklichkeit in Widerspruch. Somit wird denn <lb n="pwa_370.019"/> auch der Stil der komischen Poesie Vieles in sich aufnehmen müssen, <lb n="pwa_370.020"/> was sonst dem deutlichen Stil des Verstandes zukommt, und der Stil <lb n="pwa_370.021"/> der tragischen Poesie Vieles, was sonst dem leidenschaftlichen Stil <lb n="pwa_370.022"/> der Lyrik eigenthümlich ist, freilich stäts in demselben Masse untergeordnet, <lb n="pwa_370.023"/> als auch bei der ersten dichterischen Schöpfung selbst Verstand <lb n="pwa_370.024"/> und Gefühl untergeordnet sind.</p> <p><lb n="pwa_370.025"/> Unter diesen dreigliedrigen Stufengang von <hi rendition="#i">Komik, Epik</hi> und <lb n="pwa_370.026"/> <hi rendition="#i">Tragik,</hi> wie er in dem Wesen der Poesie selbst organisch begründet <lb n="pwa_370.027"/> ist, vertheilen sich dann auch noch einige eigenthümliche Zwitterarten <lb n="pwa_370.028"/> von Poesie, die entweder auf Seiten der Schöpfung poetisch, auf Seiten <lb n="pwa_370.029"/> der Darstellung aber prosaisch sind, oder umgekehrt auf Seiten <lb n="pwa_370.030"/> der Production prosaisch, auf Seiten der Darstellung dagegen poetisch. <lb n="pwa_370.031"/> Es ist diess einmal der <hi rendition="#i">Roman,</hi> d. h. das Epos in prosaischer Form, <lb n="pwa_370.032"/> es sind diess ferner die verschiedenen Arten der <hi rendition="#i">didactischen Epik,</hi> <lb n="pwa_370.033"/> d. h. der prosaischen Lehre des Verstandes in epischer Form, es ist das <lb n="pwa_370.034"/> endlich der <hi rendition="#i">lehrhafte Dialog</hi> und der <hi rendition="#i">lehrhafte Brief,</hi> d. h. wiederum <lb n="pwa_370.035"/> prosaische Lehre auch in prosaischer Form, aber doch nach Art des <lb n="pwa_370.036"/> Dramas abgefasst. Von diesen drei Zwitterarten mag man den Roman <lb n="pwa_370.037"/> seitwärts neben das eigentliche Epos stellen: denn er kann, was den <lb n="pwa_370.038"/> Stil betrifft, beinahe Alles mit diesem theilen, wenn man nur absieht <lb n="pwa_370.039"/> von der rhythmischen Anordnung der Worte; die lehrhafte Epik <lb n="pwa_370.040"/> dagegen und der Dialog und der Brief gehören nur zu der niederen <lb n="pwa_370.041"/> Art des poetischen Stils, die an der Grenze der Prosa liegt, und </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [370/0388]
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Wir haben nämlich schon früher (S. 321) innerhalb dieser mittleren pwa_370.002
von den drei Hauptgattungen des Stils wiederum drei Arten unterschieden, pwa_370.003
eine niedere, eine mittlere und eine höhere Art. Als niedere pwa_370.004
Art haben wir die komische, als mittlere die epische, als höhere die pwa_370.005
tragische Poesie hingestellt. Von diesen drei Arten zeigt nur die pwa_370.006
mittlere, nur die Epik, das Gesetz der Anschaulichkeit in seiner reinsten pwa_370.007
und am mindesten beschränkten Geltung: die Epik ist eine so pwa_370.008
unverkümmerte Schöpfung der Einbildungskraft, wie sonst keinerlei pwa_370.009
Dichtung, und es werden deshalb die einzelnen Bemerkungen, mit pwa_370.010
denen wir jenes allgemeine Gesetz weiterhin zu entwickeln haben, pwa_370.011
sich vorzüglich und meistentheils auf die epische Poesie beziehen. pwa_370.012
Die komische und die tragische dagegen liegen jede an einer Grenze pwa_370.013
des Uebergangs: bei jener übt noch der Verstand, bei dieser schon pwa_370.014
das Gefühl einen sehr merkbaren Einfluss sowohl auf die Anschauung pwa_370.015
als auf die Art und Weise der Darstellung. Denn in der komischen pwa_370.016
Poesie ist die Anschauung von Spott, in der tragischen von Wehmuth pwa_370.017
begleitet; in der komischen geräth der Verstand, in der tragischen pwa_370.018
das Gefühl mit der Wirklichkeit in Widerspruch. Somit wird denn pwa_370.019
auch der Stil der komischen Poesie Vieles in sich aufnehmen müssen, pwa_370.020
was sonst dem deutlichen Stil des Verstandes zukommt, und der Stil pwa_370.021
der tragischen Poesie Vieles, was sonst dem leidenschaftlichen Stil pwa_370.022
der Lyrik eigenthümlich ist, freilich stäts in demselben Masse untergeordnet, pwa_370.023
als auch bei der ersten dichterischen Schöpfung selbst Verstand pwa_370.024
und Gefühl untergeordnet sind.
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Unter diesen dreigliedrigen Stufengang von Komik, Epik und pwa_370.026
Tragik, wie er in dem Wesen der Poesie selbst organisch begründet pwa_370.027
ist, vertheilen sich dann auch noch einige eigenthümliche Zwitterarten pwa_370.028
von Poesie, die entweder auf Seiten der Schöpfung poetisch, auf Seiten pwa_370.029
der Darstellung aber prosaisch sind, oder umgekehrt auf Seiten pwa_370.030
der Production prosaisch, auf Seiten der Darstellung dagegen poetisch. pwa_370.031
Es ist diess einmal der Roman, d. h. das Epos in prosaischer Form, pwa_370.032
es sind diess ferner die verschiedenen Arten der didactischen Epik, pwa_370.033
d. h. der prosaischen Lehre des Verstandes in epischer Form, es ist das pwa_370.034
endlich der lehrhafte Dialog und der lehrhafte Brief, d. h. wiederum pwa_370.035
prosaische Lehre auch in prosaischer Form, aber doch nach Art des pwa_370.036
Dramas abgefasst. Von diesen drei Zwitterarten mag man den Roman pwa_370.037
seitwärts neben das eigentliche Epos stellen: denn er kann, was den pwa_370.038
Stil betrifft, beinahe Alles mit diesem theilen, wenn man nur absieht pwa_370.039
von der rhythmischen Anordnung der Worte; die lehrhafte Epik pwa_370.040
dagegen und der Dialog und der Brief gehören nur zu der niederen pwa_370.041
Art des poetischen Stils, die an der Grenze der Prosa liegt, und
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