pwa_369.001 das Wahre nur in so fern, als es zugleich und zu allervorderst schön pwa_369.002 ist. Des Schönen kann sich aber die Seele nur bemächtigen, indem pwa_369.003 sie es unter den Formen der sinnlichen Wirklichkeit anschaut; wogegen pwa_369.004 das Wahre von diesen Grenzen nicht eingeschlossen ist. Die Seelenkraft pwa_369.005 nun, die sich thätig zeigt, wo es das Gebiet der sinnlichen Wirklichkeit pwa_369.006 gilt, ist die Einbildung, die Einbildung in ihren zwei sich pwa_369.007 beständig durchkreuzenden und hilfreich ergänzenden Richtungen, der pwa_369.008 Phantasie und der Erinnerung: als Erinnerung entspricht sie dem Verstande, pwa_369.009 insofern er erfährt, als Phantasie, insofern er urtheilt. Es pwa_369.010 handelt sich hier also um Darstellung und Mittheilung auf dem Grunde pwa_369.011 der Einbildungskraft, um eine Production derselben auf Seiten des Darstellenden, pwa_369.012 um eine Reproduction durch eben dieselbe auf Seiten des pwa_369.013 Hörers oder Lesers. Diejenige sprachliche Darstellung nun, in welcher pwa_369.014 die Einbildung zur Einbildung spricht, heisst Poesie. Es liegt jedoch nicht pwa_369.015 die gesammte Poesie in dem Gebiete der Einbildung: an einer Gattung pwa_369.016 derselben hat, wie das früherhin (S. 120. 319) ist ausgeführt worden, das pwa_369.017 Gefühl vorwaltenden Antheil, an der Lyrik: somit bleiben uns zunächst pwa_369.018 für unsere jetzige Betrachtung nur die beiden anderen Hauptgattungen, pwa_369.019 das Epos und das Drama, das Epos, welches das Vergangene als pwa_369.020 vergangen erzählt, das Drama, welches das Vergangene als gegenwärtig pwa_369.021 darstellt. Soll aber diess Vergangene in seiner rechten sinnlichen pwa_369.022 Wirklichkeit gestaltet erscheinen und wiedergestaltet werden pwa_369.023 können, so muss die Art und Weise der Darstellung anschaulich sein, pwa_369.024 und es ist, wie vom prosaischen Stile des Verstandes Deutlichkeitpwa_369.025 gefordert wird, das characteristische Erforderniss für den poetischen pwa_369.026 Stil der Einbildung die Anschaulichkeit.
pwa_369.027 Also Anschaulichkeit. Da gelten jedoch eine nähere Bestimmung pwa_369.028 und eine Einschränkung. Die Anschaulichkeit ist zwar das characteristische, pwa_369.029 ist das wesentliche und hauptsächliche Erforderniss des poetischen pwa_369.030 Stils, aber keinesweges das einzige und ausschliessliche. Wenn pwa_369.031 die Poesie auch zunächst und hauptsächlich auf der Einbildung beruht, pwa_369.032 so hat doch auch der Verstand an ihren Schöpfungen einen gewissen pwa_369.033 Antheil, zwar einen untergeordneten und mehr negativen, insofern er pwa_369.034 nur ordnet und wehrt und zügelt, aber doch immer einen Antheil. pwa_369.035 So nun auch in der Art und Weise der poetischen Darstellung, im pwa_369.036 poetischen Stil: Anschaulichkeit für die Einbildung ist freilich die pwa_369.037 Hauptsache: aber darum sind die Rechte des Verstandes, ist die pwa_369.038 Deutlichkeit nicht ausser Augen zu lassen: sie macht sich immer pwa_369.039 noch geltend, wenn schon in zweiter Linie, mehr implicite als pwa_369.040 explicite, und bei der einen Art des poetischen Stils mehr als bei pwa_369.041 der anderen.
pwa_369.001 das Wahre nur in so fern, als es zugleich und zu allervorderst schön pwa_369.002 ist. Des Schönen kann sich aber die Seele nur bemächtigen, indem pwa_369.003 sie es unter den Formen der sinnlichen Wirklichkeit anschaut; wogegen pwa_369.004 das Wahre von diesen Grenzen nicht eingeschlossen ist. Die Seelenkraft pwa_369.005 nun, die sich thätig zeigt, wo es das Gebiet der sinnlichen Wirklichkeit pwa_369.006 gilt, ist die Einbildung, die Einbildung in ihren zwei sich pwa_369.007 beständig durchkreuzenden und hilfreich ergänzenden Richtungen, der pwa_369.008 Phantasie und der Erinnerung: als Erinnerung entspricht sie dem Verstande, pwa_369.009 insofern er erfährt, als Phantasie, insofern er urtheilt. Es pwa_369.010 handelt sich hier also um Darstellung und Mittheilung auf dem Grunde pwa_369.011 der Einbildungskraft, um eine Production derselben auf Seiten des Darstellenden, pwa_369.012 um eine Reproduction durch eben dieselbe auf Seiten des pwa_369.013 Hörers oder Lesers. Diejenige sprachliche Darstellung nun, in welcher pwa_369.014 die Einbildung zur Einbildung spricht, heisst Poesie. Es liegt jedoch nicht pwa_369.015 die gesammte Poesie in dem Gebiete der Einbildung: an einer Gattung pwa_369.016 derselben hat, wie das früherhin (S. 120. 319) ist ausgeführt worden, das pwa_369.017 Gefühl vorwaltenden Antheil, an der Lyrik: somit bleiben uns zunächst pwa_369.018 für unsere jetzige Betrachtung nur die beiden anderen Hauptgattungen, pwa_369.019 das Epos und das Drama, das Epos, welches das Vergangene als pwa_369.020 vergangen erzählt, das Drama, welches das Vergangene als gegenwärtig pwa_369.021 darstellt. Soll aber diess Vergangene in seiner rechten sinnlichen pwa_369.022 Wirklichkeit gestaltet erscheinen und wiedergestaltet werden pwa_369.023 können, so muss die Art und Weise der Darstellung anschaulich sein, pwa_369.024 und es ist, wie vom prosaischen Stile des Verstandes Deutlichkeitpwa_369.025 gefordert wird, das characteristische Erforderniss für den poetischen pwa_369.026 Stil der Einbildung die Anschaulichkeit.
pwa_369.027 Also Anschaulichkeit. Da gelten jedoch eine nähere Bestimmung pwa_369.028 und eine Einschränkung. Die Anschaulichkeit ist zwar das characteristische, pwa_369.029 ist das wesentliche und hauptsächliche Erforderniss des poetischen pwa_369.030 Stils, aber keinesweges das einzige und ausschliessliche. Wenn pwa_369.031 die Poesie auch zunächst und hauptsächlich auf der Einbildung beruht, pwa_369.032 so hat doch auch der Verstand an ihren Schöpfungen einen gewissen pwa_369.033 Antheil, zwar einen untergeordneten und mehr negativen, insofern er pwa_369.034 nur ordnet und wehrt und zügelt, aber doch immer einen Antheil. pwa_369.035 So nun auch in der Art und Weise der poetischen Darstellung, im pwa_369.036 poetischen Stil: Anschaulichkeit für die Einbildung ist freilich die pwa_369.037 Hauptsache: aber darum sind die Rechte des Verstandes, ist die pwa_369.038 Deutlichkeit nicht ausser Augen zu lassen: sie macht sich immer pwa_369.039 noch geltend, wenn schon in zweiter Linie, mehr implicite als pwa_369.040 explicite, und bei der einen Art des poetischen Stils mehr als bei pwa_369.041 der anderen.
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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 369. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/387>, abgerufen am 27.07.2024.
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