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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873

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Bewegungen eine feindliche Stimmung des Gemüthes verrathen wollen, pwa_367.002
wenn sich eine Neigung zu beleidigen und zu kränken der Seele pwa_367.003
bemächtigt, so gewinne es dann wenigstens über dich, die Scene, die pwa_367.004
dich umgiebt, in Gedanken zu verändern; lege die Personen, die du pwa_367.005
verletzen möchtest, in das Grab, wo du nichts mehr gut machen pwa_367.006
kannst." So fehlerhaft es ist, mehrere gleich gesenkte Sätze neben pwa_367.007
einander zu stellen, so tadellos ist es dagegen, wenn von den mehreren pwa_367.008
Gliedern des Nachsatzes je eines einem Gliede des Vordersatzes pwa_367.009
parallel läuft: in diesem Falle sind gewissermassen zwei Perioden in pwa_367.010
einander geschoben. Beispiel: "Wenn wir auch Alles betrachtet haben, pwa_367.011
was die Natur uns zeigt, wenn wir auch Alles genossen haben, was pwa_367.012
sie uns darbietet, wenn wir auch Alles geleistet haben, was in ihrem pwa_367.013
Gebiete sich thun lässt, unser Durst nach Erkenntniss ist noch lange pwa_367.014
nicht gestillt, wir sehnen uns nach mehr Wahrheit und Licht, unser pwa_367.015
Wunsch nach Wohlsein ist noch lange nicht befriedigt; wir schmachten pwa_367.016
nach einem höhern Genuss; unserm Triebe nach Vollkommenheit ist pwa_367.017
noch lange nicht Genüge geschehen; er kennt ein höchstes Ziel, er pwa_367.018
strebt nach unendlichem Fortschritt" (Reinhard). In solchen Perioden pwa_367.019
besteht der Nachsatz nicht aus mehreren zusammengehörigen Senkungen, pwa_367.020
sondern je einer Hebung des Vordersatzes stellt sich eine Senkung des pwa_367.021
Nachsatzes gegenüber. Gegen Perioden mit mehrgliedrigem Vordersatze pwa_367.022
ist nichts einzuwenden, wie denn auch eine mehrfache Hebung keine pwa_367.023
Bedenken erregt, wie eine mehrfache Senkung; der Rhythmus einer pwa_367.024
solchen Periode entspricht dann dem Antibacchius (_ _ _) oder dem pwa_367.025
Epitritus quartus (_ _ _ _). Auch hiefür ein Beispiel von Jacobi: pwa_367.026
"Dass mein Geist das Unendliche denkt, dass er in diesem Gedanken pwa_367.027
eine Seligkeit fühlt, die weit über alle irdische Grösse hinausgeht, pwa_367.028
dass eben diese Seligkeit, wenn ich ihren Quellen nachspüre, mit der pwa_367.029
Reue über das Verschwinden des sinnlich Grossen so eng zusammenhängt, pwa_367.030
alles das beweist, dass nicht die eng begrenzte Welt die Heimath pwa_367.031
meines Geistes ist." Auf solche Weise gewinnt nun freilich der pwa_367.032
Vordersatz durch die Mehrzahl seiner Glieder ein starkes Uebergewicht pwa_367.033
über den Nachsatz; er würde denselben ganz erdrücken, wenn man pwa_367.034
diesen nicht durch den Inhalt, durch die Kraft des Gedankens stärkte: pwa_367.035
ja grade die Kürze des Nachsatzes kann zur Verstärkung des Gedankens pwa_367.036
und zur Ausgleichung des Uebergewichtes dienen. Vgl. LB. 2, pwa_367.037
762, 10-33. Fehlt es dem Nachsatze an einem solchen Gegengewichte pwa_367.038
durch die Inhaltsschwere des Gedankens, so kann er sich dem mehrgliedrigen pwa_367.039
Vordersatze gegenüber nur durch die Masse, den Reichthum pwa_367.040
an Worten und Nebensätzen u. s. f. behaupten. Beispiel: "Ist Jemand pwa_367.041
in einer löblichen Freiheit, umgeben von schönen und edeln Gegenständen,

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Bewegungen eine feindliche Stimmung des Gemüthes verrathen wollen, pwa_367.002
wenn sich eine Neigung zu beleidigen und zu kränken der Seele pwa_367.003
bemächtigt, so gewinne es dann wenigstens über dich, die Scene, die pwa_367.004
dich umgiebt, in Gedanken zu verändern; lege die Personen, die du pwa_367.005
verletzen möchtest, in das Grab, wo du nichts mehr gut machen pwa_367.006
kannst.“ So fehlerhaft es ist, mehrere gleich gesenkte Sätze neben pwa_367.007
einander zu stellen, so tadellos ist es dagegen, wenn von den mehreren pwa_367.008
Gliedern des Nachsatzes je eines einem Gliede des Vordersatzes pwa_367.009
parallel läuft: in diesem Falle sind gewissermassen zwei Perioden in pwa_367.010
einander geschoben. Beispiel: „Wenn wir auch Alles betrachtet haben, pwa_367.011
was die Natur uns zeigt, wenn wir auch Alles genossen haben, was pwa_367.012
sie uns darbietet, wenn wir auch Alles geleistet haben, was in ihrem pwa_367.013
Gebiete sich thun lässt, unser Durst nach Erkenntniss ist noch lange pwa_367.014
nicht gestillt, wir sehnen uns nach mehr Wahrheit und Licht, unser pwa_367.015
Wunsch nach Wohlsein ist noch lange nicht befriedigt; wir schmachten pwa_367.016
nach einem höhern Genuss; unserm Triebe nach Vollkommenheit ist pwa_367.017
noch lange nicht Genüge geschehen; er kennt ein höchstes Ziel, er pwa_367.018
strebt nach unendlichem Fortschritt“ (Reinhard). In solchen Perioden pwa_367.019
besteht der Nachsatz nicht aus mehreren zusammengehörigen Senkungen, pwa_367.020
sondern je einer Hebung des Vordersatzes stellt sich eine Senkung des pwa_367.021
Nachsatzes gegenüber. Gegen Perioden mit mehrgliedrigem Vordersatze pwa_367.022
ist nichts einzuwenden, wie denn auch eine mehrfache Hebung keine pwa_367.023
Bedenken erregt, wie eine mehrfache Senkung; der Rhythmus einer pwa_367.024
solchen Periode entspricht dann dem Antibacchius (_ _ ‿) oder dem pwa_367.025
Epitritus quartus (_ _ _ ‿). Auch hiefür ein Beispiel von Jacobi: pwa_367.026
„Dass mein Geist das Unendliche denkt, dass er in diesem Gedanken pwa_367.027
eine Seligkeit fühlt, die weit über alle irdische Grösse hinausgeht, pwa_367.028
dass eben diese Seligkeit, wenn ich ihren Quellen nachspüre, mit der pwa_367.029
Reue über das Verschwinden des sinnlich Grossen so eng zusammenhängt, pwa_367.030
alles das beweist, dass nicht die eng begrenzte Welt die Heimath pwa_367.031
meines Geistes ist.“ Auf solche Weise gewinnt nun freilich der pwa_367.032
Vordersatz durch die Mehrzahl seiner Glieder ein starkes Uebergewicht pwa_367.033
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ja grade die Kürze des Nachsatzes kann zur Verstärkung des Gedankens pwa_367.036
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[367/0385] pwa_367.001 Bewegungen eine feindliche Stimmung des Gemüthes verrathen wollen, pwa_367.002 wenn sich eine Neigung zu beleidigen und zu kränken der Seele pwa_367.003 bemächtigt, so gewinne es dann wenigstens über dich, die Scene, die pwa_367.004 dich umgiebt, in Gedanken zu verändern; lege die Personen, die du pwa_367.005 verletzen möchtest, in das Grab, wo du nichts mehr gut machen pwa_367.006 kannst.“ So fehlerhaft es ist, mehrere gleich gesenkte Sätze neben pwa_367.007 einander zu stellen, so tadellos ist es dagegen, wenn von den mehreren pwa_367.008 Gliedern des Nachsatzes je eines einem Gliede des Vordersatzes pwa_367.009 parallel läuft: in diesem Falle sind gewissermassen zwei Perioden in pwa_367.010 einander geschoben. Beispiel: „Wenn wir auch Alles betrachtet haben, pwa_367.011 was die Natur uns zeigt, wenn wir auch Alles genossen haben, was pwa_367.012 sie uns darbietet, wenn wir auch Alles geleistet haben, was in ihrem pwa_367.013 Gebiete sich thun lässt, unser Durst nach Erkenntniss ist noch lange pwa_367.014 nicht gestillt, wir sehnen uns nach mehr Wahrheit und Licht, unser pwa_367.015 Wunsch nach Wohlsein ist noch lange nicht befriedigt; wir schmachten pwa_367.016 nach einem höhern Genuss; unserm Triebe nach Vollkommenheit ist pwa_367.017 noch lange nicht Genüge geschehen; er kennt ein höchstes Ziel, er pwa_367.018 strebt nach unendlichem Fortschritt“ (Reinhard). In solchen Perioden pwa_367.019 besteht der Nachsatz nicht aus mehreren zusammengehörigen Senkungen, pwa_367.020 sondern je einer Hebung des Vordersatzes stellt sich eine Senkung des pwa_367.021 Nachsatzes gegenüber. Gegen Perioden mit mehrgliedrigem Vordersatze pwa_367.022 ist nichts einzuwenden, wie denn auch eine mehrfache Hebung keine pwa_367.023 Bedenken erregt, wie eine mehrfache Senkung; der Rhythmus einer pwa_367.024 solchen Periode entspricht dann dem Antibacchius (_ _ ‿) oder dem pwa_367.025 Epitritus quartus (_ _ _ ‿). Auch hiefür ein Beispiel von Jacobi: pwa_367.026 „Dass mein Geist das Unendliche denkt, dass er in diesem Gedanken pwa_367.027 eine Seligkeit fühlt, die weit über alle irdische Grösse hinausgeht, pwa_367.028 dass eben diese Seligkeit, wenn ich ihren Quellen nachspüre, mit der pwa_367.029 Reue über das Verschwinden des sinnlich Grossen so eng zusammenhängt, pwa_367.030 alles das beweist, dass nicht die eng begrenzte Welt die Heimath pwa_367.031 meines Geistes ist.“ Auf solche Weise gewinnt nun freilich der pwa_367.032 Vordersatz durch die Mehrzahl seiner Glieder ein starkes Uebergewicht pwa_367.033 über den Nachsatz; er würde denselben ganz erdrücken, wenn man pwa_367.034 diesen nicht durch den Inhalt, durch die Kraft des Gedankens stärkte: pwa_367.035 ja grade die Kürze des Nachsatzes kann zur Verstärkung des Gedankens pwa_367.036 und zur Ausgleichung des Uebergewichtes dienen. Vgl. LB. 2, pwa_367.037 762, 10–33. Fehlt es dem Nachsatze an einem solchen Gegengewichte pwa_367.038 durch die Inhaltsschwere des Gedankens, so kann er sich dem mehrgliedrigen pwa_367.039 Vordersatze gegenüber nur durch die Masse, den Reichthum pwa_367.040 an Worten und Nebensätzen u. s. f. behaupten. Beispiel: „Ist Jemand pwa_367.041 in einer löblichen Freiheit, umgeben von schönen und edeln Gegenständen,

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Zitationshilfe: Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 367. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/385>, abgerufen am 22.11.2024.