pwa_020.001 so dass wie Objectivität mit zum Character der classischen pwa_020.002 Poesie gehört, so Subjectivität zum Character der modernen. Je nachdem pwa_020.003 nun diese oder jene Kraft vorwaltet, ergeben sich verschiedene pwa_020.004 Nüancierungen und Benennungen. Tritt die productive Einbildungskraft, pwa_020.005 die Phantasie, hervor, ohne dass der ordnende Verstand in pwa_020.006 genügendem Masse zu Rathe gezogen wird, so ergiebt sich die phantastische pwa_020.007 Anschauung. Diess Missverhältniss zeigt sich besonders in den pwa_020.008 sogenannten romantischen Dichtungen des Mittelalters und ist bezeichnend pwa_020.009 für diese Zeit; wir finden es in den Heldengedichten des germanischen pwa_020.010 und romanischen Abendlandes wie in den Märchen der pwa_020.011 Araber. Wie es aber seit zwei Menschenaltern wiederum Romantiker pwa_020.012 giebt, so auch eben diess Verhältniss oder Missverhältniss der Phantasie. pwa_020.013 In Deutschland kann als Beispiel Ludwig Tieck gelten, der pwa_020.014 auch, seinen dichterischen Character selbst sehr wohl verstehend, die pwa_020.015 Hauptsammlung seiner Poesien Phantasus betitelt hat. Tritt dagegen pwa_020.016 die schaffende Einbildung zurück und mit ihr auch der Verstand, und pwa_020.017 stellt sich besonders die jetzt noch übrige dritte Kraft heraus, so pwa_020.018 ergiebt sich daraus die sentimentale und die gemüthliche Poesie, die pwa_020.019 sentimentale, wenn das vorwaltende Gefühl doch nur vorübergehend pwa_020.020 gereizt und nur leicht erregt wird, die gemüthliche, wenn das Gefühl pwa_020.021 zur Beständigkeit des Gemüthes erstarkt ist und dieses nun in tiefere pwa_020.022 und wärmere Bewegung geräth. Um auch hier deutsche Dichter als pwa_020.023 Beispiele anzuführen, so sind solche sentimentale oder empfindsame pwa_020.024 Dichter Hölty, Matthisson, Salis; Dichter von warmer und constanter pwa_020.025 Gemüthlichkeit Hebel und Uhland.
pwa_020.026 Endlich kann auch, und diess ist von allen Missverhältnissen das pwa_020.027 einzige eigentlich bedenkliche und gefährliche, der Verstand den obersten pwa_020.028 Rang einnehmen; es kann sich die gebührende Rangordnung umkehren, pwa_020.029 so dass Einbildung und Gefühl, denen der Verstand nur in pwa_020.030 einer mehr negativen Weise helfen und dienen sollte, zu Dienerinnen pwa_020.031 des Verstandes werden und ihm nur Formen und Farbe gewähren pwa_020.032 für seine Erfahrungen und Urtheile. So entsteht die Reflexionspoesie. pwa_020.033 Das hier waltende Verhältniss ist misslich, bedenklich und pwa_020.034 gefährlich, insofern diese Rangordnung der drei Seelenkräfte eigentlich pwa_020.035 für die prosaische Auffassung, nicht für die poetische erforderlich und pwa_020.036 zulässig ist. Ein so organisierter Dichter bedarf des ausserordentlichsten pwa_020.037 Talentes, bedarf der grössten Kunst in der Darstellung, wenn pwa_020.038 er seine Anschauungen dennoch als poetisch behaupten will; gebricht pwa_020.039 es ihm hier, so erscheint er nur um so weniger als Dichter, je verständiger pwa_020.040 er ist. Bei Voss vermag alle Kunst der Rede, weil sie pwa_020.041 eben auch nicht die rechte Kunst der Rede ist, vermag alle Künstelei
pwa_020.001 so dass wie Objectivität mit zum Character der classischen pwa_020.002 Poesie gehört, so Subjectivität zum Character der modernen. Je nachdem pwa_020.003 nun diese oder jene Kraft vorwaltet, ergeben sich verschiedene pwa_020.004 Nüancierungen und Benennungen. Tritt die productive Einbildungskraft, pwa_020.005 die Phantasie, hervor, ohne dass der ordnende Verstand in pwa_020.006 genügendem Masse zu Rathe gezogen wird, so ergiebt sich die phantastische pwa_020.007 Anschauung. Diess Missverhältniss zeigt sich besonders in den pwa_020.008 sogenannten romantischen Dichtungen des Mittelalters und ist bezeichnend pwa_020.009 für diese Zeit; wir finden es in den Heldengedichten des germanischen pwa_020.010 und romanischen Abendlandes wie in den Märchen der pwa_020.011 Araber. Wie es aber seit zwei Menschenaltern wiederum Romantiker pwa_020.012 giebt, so auch eben diess Verhältniss oder Missverhältniss der Phantasie. pwa_020.013 In Deutschland kann als Beispiel Ludwig Tieck gelten, der pwa_020.014 auch, seinen dichterischen Character selbst sehr wohl verstehend, die pwa_020.015 Hauptsammlung seiner Poesien Phantasus betitelt hat. Tritt dagegen pwa_020.016 die schaffende Einbildung zurück und mit ihr auch der Verstand, und pwa_020.017 stellt sich besonders die jetzt noch übrige dritte Kraft heraus, so pwa_020.018 ergiebt sich daraus die sentimentale und die gemüthliche Poesie, die pwa_020.019 sentimentale, wenn das vorwaltende Gefühl doch nur vorübergehend pwa_020.020 gereizt und nur leicht erregt wird, die gemüthliche, wenn das Gefühl pwa_020.021 zur Beständigkeit des Gemüthes erstarkt ist und dieses nun in tiefere pwa_020.022 und wärmere Bewegung geräth. Um auch hier deutsche Dichter als pwa_020.023 Beispiele anzuführen, so sind solche sentimentale oder empfindsame pwa_020.024 Dichter Hölty, Matthisson, Salis; Dichter von warmer und constanter pwa_020.025 Gemüthlichkeit Hebel und Uhland.
pwa_020.026 Endlich kann auch, und diess ist von allen Missverhältnissen das pwa_020.027 einzige eigentlich bedenkliche und gefährliche, der Verstand den obersten pwa_020.028 Rang einnehmen; es kann sich die gebührende Rangordnung umkehren, pwa_020.029 so dass Einbildung und Gefühl, denen der Verstand nur in pwa_020.030 einer mehr negativen Weise helfen und dienen sollte, zu Dienerinnen pwa_020.031 des Verstandes werden und ihm nur Formen und Farbe gewähren pwa_020.032 für seine Erfahrungen und Urtheile. So entsteht die Reflexionspoesie. pwa_020.033 Das hier waltende Verhältniss ist misslich, bedenklich und pwa_020.034 gefährlich, insofern diese Rangordnung der drei Seelenkräfte eigentlich pwa_020.035 für die prosaische Auffassung, nicht für die poetische erforderlich und pwa_020.036 zulässig ist. Ein so organisierter Dichter bedarf des ausserordentlichsten pwa_020.037 Talentes, bedarf der grössten Kunst in der Darstellung, wenn pwa_020.038 er seine Anschauungen dennoch als poetisch behaupten will; gebricht pwa_020.039 es ihm hier, so erscheint er nur um so weniger als Dichter, je verständiger pwa_020.040 er ist. Bei Voss vermag alle Kunst der Rede, weil sie pwa_020.041 eben auch nicht die rechte Kunst der Rede ist, vermag alle Künstelei
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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 20. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/38>, abgerufen am 22.11.2024.
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