Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_343.001 pwa_343.020 pwa_343.036 pwa_343.001 pwa_343.020 pwa_343.036 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0361" n="343"/><lb n="pwa_343.001"/> guten Grund haben, oder mögen sie auf blossen Zufälligkeiten und <lb n="pwa_343.002"/> einem Eigensinn des Sprachgebrauches beruhen, immer ist es Pflicht, <lb n="pwa_343.003"/> sie zu beobachten; jede Verletzung derselben ist eine den Leser störende <lb n="pwa_343.004"/> und irre leitende, die Verständlichkeit schmälernde Unpasslichkeit und <lb n="pwa_343.005"/> Unangemessenheit. So verhält es sich z. B. mit den beiden Worten <lb n="pwa_343.006"/> <hi rendition="#i">Kopf</hi> und <hi rendition="#i">Haupt;</hi> es sind synonyma: Haupt, der edlere, dichterische <lb n="pwa_343.007"/> Ausdruck, Kopf der gewöhnliche, prosaische; für die Prosa unterscheiden <lb n="pwa_343.008"/> sie sich so, dass Haupt, als das ältere, seine eigentlich sinnliche <lb n="pwa_343.009"/> Bedeutung meist eingebüsst und eine übertragene, unsinnliche <lb n="pwa_343.010"/> Bedeutung angenommen hat: so spricht man von dem Haupte einer <lb n="pwa_343.011"/> Partei, nicht von ihrem Kopfe, ebenso in der Redensart die Feinde <lb n="pwa_343.012"/> aufs Haupt schlagen: auch hier hat sich die bildliche Anschauung <lb n="pwa_343.013"/> zu einer blossen Phrase abgeschliffen. Gleichwohl sagt man wieder: <lb n="pwa_343.014"/> er hat einen guten, fähigen, klaren Kopf, den Kopf verlieren, er <lb n="pwa_343.015"/> ist nicht auf den Kopf gefallen; hier ist etwas durchaus Unsinnliches <lb n="pwa_343.016"/> gemeint, dennoch sagt man nicht Haupt, sondern Kopf. Es <lb n="pwa_343.017"/> ist eben ein vocabulum solenne: diess bestätigt auch der Gebrauch, <lb n="pwa_343.018"/> die Menschen nach Köpfen, das Vieh dagegen nach Häuptern zu <lb n="pwa_343.019"/> zählen.</p> <p><lb n="pwa_343.020"/> Viertens streitet auch gegen die Regel der Angemessenheit und <lb n="pwa_343.021"/> somit gegen das allgemeine Gesetz der Deutlichkeit die <hi rendition="#b">Amphibolie,</hi> <lb n="pwa_343.022"/> <foreign xml:lang="grc">ἀμφιβολία</foreign> oder ambiguitas, die Zweideutigkeit oder Vieldeutigkeit der <lb n="pwa_343.023"/> Ausdrücke. Sie entsteht, indem man ein Wort, das verschiedene, ja <lb n="pwa_343.024"/> entgegengesetzte Bedeutungen in sich vereinigt, so gebraucht, dass <lb n="pwa_343.025"/> aus dem Zusammenhange nicht klar wird, welche der Bedeutungen <lb n="pwa_343.026"/> man zu verstehn habe, sondern dem Gegebenen nach jede Auffassung <lb n="pwa_343.027"/> gleich richtig ist: z. B. <hi rendition="#i">verfolgen,</hi> welches bald feindlich nachgehn, <lb n="pwa_343.028"/> bald angelegentlich betreiben, <hi rendition="#i">übersehen,</hi> welches bald überschauen, <lb n="pwa_343.029"/> überblicken, bald vernachlässigen bedeutet. Also wäre es durchaus <lb n="pwa_343.030"/> zweideutig zu sagen: „Du sollst die Wahrheit stets verfolgen und <lb n="pwa_343.031"/> auch bei der Verwaltung mannigfaltiger Berufsgeschäfte Alles zu übersehen <lb n="pwa_343.032"/> suchen.“ Die Amphibolie ist nur dann kein Fehler, wenn man <lb n="pwa_343.033"/> ein Wortspiel, einen Witz, oder, wie das bei den Orakeln des Alterthums <lb n="pwa_343.034"/> der Fall war, eine neckende und täuschende Räthselhaftigkeit <lb n="pwa_343.035"/> beabsichtigt.</p> <p><lb n="pwa_343.036"/> Ein fünfter Fehler gegen die Angemessenheit ist es, wenn ein <lb n="pwa_343.037"/> Wort <hi rendition="#b">zu allgemein</hi> ist für den gemeinten Begriff, wenn es vielleicht <lb n="pwa_343.038"/> einen Gattungsbegriff bezeichnet, und doch ein Artbegriff zu bezeichnen <lb n="pwa_343.039"/> war. Am häufigsten ist dieser Verstoss, wo von Abstracten die Rede <lb n="pwa_343.040"/> ist. Beispiel: „Die Tugend fordert, dass wir uns über die wahre <lb n="pwa_343.041"/> Wohlfahrt unserer Nebenmenschen freuen;“ hier ist das Wort Tugend </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [343/0361]
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guten Grund haben, oder mögen sie auf blossen Zufälligkeiten und pwa_343.002
einem Eigensinn des Sprachgebrauches beruhen, immer ist es Pflicht, pwa_343.003
sie zu beobachten; jede Verletzung derselben ist eine den Leser störende pwa_343.004
und irre leitende, die Verständlichkeit schmälernde Unpasslichkeit und pwa_343.005
Unangemessenheit. So verhält es sich z. B. mit den beiden Worten pwa_343.006
Kopf und Haupt; es sind synonyma: Haupt, der edlere, dichterische pwa_343.007
Ausdruck, Kopf der gewöhnliche, prosaische; für die Prosa unterscheiden pwa_343.008
sie sich so, dass Haupt, als das ältere, seine eigentlich sinnliche pwa_343.009
Bedeutung meist eingebüsst und eine übertragene, unsinnliche pwa_343.010
Bedeutung angenommen hat: so spricht man von dem Haupte einer pwa_343.011
Partei, nicht von ihrem Kopfe, ebenso in der Redensart die Feinde pwa_343.012
aufs Haupt schlagen: auch hier hat sich die bildliche Anschauung pwa_343.013
zu einer blossen Phrase abgeschliffen. Gleichwohl sagt man wieder: pwa_343.014
er hat einen guten, fähigen, klaren Kopf, den Kopf verlieren, er pwa_343.015
ist nicht auf den Kopf gefallen; hier ist etwas durchaus Unsinnliches pwa_343.016
gemeint, dennoch sagt man nicht Haupt, sondern Kopf. Es pwa_343.017
ist eben ein vocabulum solenne: diess bestätigt auch der Gebrauch, pwa_343.018
die Menschen nach Köpfen, das Vieh dagegen nach Häuptern zu pwa_343.019
zählen.
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Viertens streitet auch gegen die Regel der Angemessenheit und pwa_343.021
somit gegen das allgemeine Gesetz der Deutlichkeit die Amphibolie, pwa_343.022
ἀμφιβολία oder ambiguitas, die Zweideutigkeit oder Vieldeutigkeit der pwa_343.023
Ausdrücke. Sie entsteht, indem man ein Wort, das verschiedene, ja pwa_343.024
entgegengesetzte Bedeutungen in sich vereinigt, so gebraucht, dass pwa_343.025
aus dem Zusammenhange nicht klar wird, welche der Bedeutungen pwa_343.026
man zu verstehn habe, sondern dem Gegebenen nach jede Auffassung pwa_343.027
gleich richtig ist: z. B. verfolgen, welches bald feindlich nachgehn, pwa_343.028
bald angelegentlich betreiben, übersehen, welches bald überschauen, pwa_343.029
überblicken, bald vernachlässigen bedeutet. Also wäre es durchaus pwa_343.030
zweideutig zu sagen: „Du sollst die Wahrheit stets verfolgen und pwa_343.031
auch bei der Verwaltung mannigfaltiger Berufsgeschäfte Alles zu übersehen pwa_343.032
suchen.“ Die Amphibolie ist nur dann kein Fehler, wenn man pwa_343.033
ein Wortspiel, einen Witz, oder, wie das bei den Orakeln des Alterthums pwa_343.034
der Fall war, eine neckende und täuschende Räthselhaftigkeit pwa_343.035
beabsichtigt.
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Ein fünfter Fehler gegen die Angemessenheit ist es, wenn ein pwa_343.037
Wort zu allgemein ist für den gemeinten Begriff, wenn es vielleicht pwa_343.038
einen Gattungsbegriff bezeichnet, und doch ein Artbegriff zu bezeichnen pwa_343.039
war. Am häufigsten ist dieser Verstoss, wo von Abstracten die Rede pwa_343.040
ist. Beispiel: „Die Tugend fordert, dass wir uns über die wahre pwa_343.041
Wohlfahrt unserer Nebenmenschen freuen;“ hier ist das Wort Tugend
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