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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873

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thun wir wohl, bei unserer Betrachtung uns nicht an diese antike pwa_329.002
Classification zu binden, sondern eine neue zu versuchen, und zwar pwa_329.003
eine mehr als zweitheilige. Wir wollen aber dabei mehr die Sprachreinheit pwa_329.004
als die Sprachrichtigkeit ins Auge fassen, aus dem einfachen pwa_329.005
Grunde, weil wir uns sonst von unserem eigentlichen Gegenstande, pwa_329.006
über die Stilistik hinweg in die Grammatik verlieren würden. "Praetereamus," pwa_329.007
sagt Cicero (de orat. 3, 13), "praetereamus igitur praecepta pwa_329.008
latine loquendi, quae puerilis doctrina tradit et subtilior cognitio ac pwa_329.009
ratio litterarum alit aut consuetudo sermonis quotidiani ac domestici, pwa_329.010
libri confirmant et lectio veterum oratorum et poetarum." Zudem sind pwa_329.011
Fehler gegen die Sprachrichtigkeit überall Fehler, mag man nun lehren pwa_329.012
oder beschreiben oder erzählen, und nicht nur in der Prosa, pwa_329.013
sondern auch in der Poesie; Fehler gegen die Sprachreinheit aber pwa_329.014
können das eine Mal grösser, das andere Mal geringer sein; ja es kann pwa_329.015
sich ereignen, dass sie mitunter ganz aufhören, Fehler zu sein. Darum pwa_329.016
wollen wir unsere Zeit eher auf Untersuchung der Sprachreinheit verwenden. pwa_329.017
Wir unterscheiden vier Arten von Verstössen gegen die pwa_329.018
Reinheit des Ausdrucks: den Archaismus, den Provincialismus, den pwa_329.019
Barbarismus und den Neologismus.

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1) Archaismus nennt man den Gebrauch alter oder veralteter Wörter pwa_329.021
und Redensarten und Bildungs- und Biegungsweisen. Also ist es ein pwa_329.022
Archaismus, wenn man Worte und Wortformen braucht, die im Fortschritte pwa_329.023
der Sprachentwickelung aus dem Wortvorrath der classischen pwa_329.024
Schriftsteller und aus der gebildeten Umgangssprache verschwunden sind; pwa_329.025
und ebenso ist es ein Archaismus, wenn man ein Wort, das zwar noch pwa_329.026
lebt und besteht, das aber seine alte Bedeutung verloren hat, in eben pwa_329.027
dieser alten Bedeutung gebraucht. Die Lateiner nennen das verba vetusta, pwa_329.028
antiqua, antiquata, obsoleta, exoleta.
Inwiefern die Anwendung pwa_329.029
solcher Worte und Formen ein Fehler sei, und wie sehr sie das Auffassen pwa_329.030
und Verstehn behindere und die Deutlichkeit beeinträchtige, das ist in pwa_329.031
sich selber klar. Hier ist nur noch zu bemerken, dass man bei der Durchführung pwa_329.032
dieser negativen Regel einen Unterschied zu machen hat zwischen pwa_329.033
der belehrenden Prosa auf der einen und der beschreibenden und pwa_329.034
der erzählenden auf der anderen Seite, und dass die Archaismen selbst pwa_329.035
von verschiedener Art sind, dass alte Worte, verba vetusta, nicht pwa_329.036
ganz das Gleiche sind als alterthümliche und veraltete, verba antiqua pwa_329.037
und antiquata oder obsoleta. Verba antiquata, obsoleta, d. h. veraltete pwa_329.038
Worte sind ganz und gar erloschene und ausgestorbene, deren sich pwa_329.039
Niemand bedienen darf, weil sie Niemand anderer versteht, und deren pwa_329.040
man sich auch niemals zu bedienen braucht, weil die Sprache jetzt pwa_329.041
einen oder mehrere andre Ausdrücke für den gemeinten Begriff besitzt.

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thun wir wohl, bei unserer Betrachtung uns nicht an diese antike pwa_329.002
Classification zu binden, sondern eine neue zu versuchen, und zwar pwa_329.003
eine mehr als zweitheilige. Wir wollen aber dabei mehr die Sprachreinheit pwa_329.004
als die Sprachrichtigkeit ins Auge fassen, aus dem einfachen pwa_329.005
Grunde, weil wir uns sonst von unserem eigentlichen Gegenstande, pwa_329.006
über die Stilistik hinweg in die Grammatik verlieren würden. „Praetereamus,“ pwa_329.007
sagt Cicero (de orat. 3, 13), „praetereamus igitur praecepta pwa_329.008
latine loquendi, quae puerilis doctrina tradit et subtilior cognitio ac pwa_329.009
ratio litterarum alit aut consuetudo sermonis quotidiani ac domestici, pwa_329.010
libri confirmant et lectio veterum oratorum et poetarum.“ Zudem sind pwa_329.011
Fehler gegen die Sprachrichtigkeit überall Fehler, mag man nun lehren pwa_329.012
oder beschreiben oder erzählen, und nicht nur in der Prosa, pwa_329.013
sondern auch in der Poesie; Fehler gegen die Sprachreinheit aber pwa_329.014
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wollen wir unsere Zeit eher auf Untersuchung der Sprachreinheit verwenden. pwa_329.017
Wir unterscheiden vier Arten von Verstössen gegen die pwa_329.018
Reinheit des Ausdrucks: den Archaismus, den Provincialismus, den pwa_329.019
Barbarismus und den Neologismus.

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1) Archaismus nennt man den Gebrauch alter oder veralteter Wörter pwa_329.021
und Redensarten und Bildungs- und Biegungsweisen. Also ist es ein pwa_329.022
Archaismus, wenn man Worte und Wortformen braucht, die im Fortschritte pwa_329.023
der Sprachentwickelung aus dem Wortvorrath der classischen pwa_329.024
Schriftsteller und aus der gebildeten Umgangssprache verschwunden sind; pwa_329.025
und ebenso ist es ein Archaismus, wenn man ein Wort, das zwar noch pwa_329.026
lebt und besteht, das aber seine alte Bedeutung verloren hat, in eben pwa_329.027
dieser alten Bedeutung gebraucht. Die Lateiner nennen das verba vetusta, pwa_329.028
antiqua, antiquata, obsoleta, exoleta.
Inwiefern die Anwendung pwa_329.029
solcher Worte und Formen ein Fehler sei, und wie sehr sie das Auffassen pwa_329.030
und Verstehn behindere und die Deutlichkeit beeinträchtige, das ist in pwa_329.031
sich selber klar. Hier ist nur noch zu bemerken, dass man bei der Durchführung pwa_329.032
dieser negativen Regel einen Unterschied zu machen hat zwischen pwa_329.033
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der erzählenden auf der anderen Seite, und dass die Archaismen selbst pwa_329.035
von verschiedener Art sind, dass alte Worte, verba vetusta, nicht pwa_329.036
ganz das Gleiche sind als alterthümliche und veraltete, verba antiqua pwa_329.037
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Niemand bedienen darf, weil sie Niemand anderer versteht, und deren pwa_329.040
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Zitationshilfe: Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 329. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/347>, abgerufen am 23.11.2024.